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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld906
Die stÀndige subkutane erotische Aufladung des heterosexuellen VerhÀltnis-
ses entfaltet eine ungeahnte und diskursiv nicht einholbare körperliche Eigen-
dynamik, der die beiden hochgradig ideologisierten jungen Menschen hilflos
ausgeliefert sind : â[S]ie erklĂ€rten in der Liebe das grobe GefĂŒhl des sich im
Körper krĂŒmmenden Ichs zwar fĂŒr ebenso niedrig wie ein MagenkrĂŒmmen,
aber ihre Glieder kĂŒmmerten sich nicht ganz um die Anschauungen der See-
len und preĂten sich auf eigene Verantwortung aneinander. Sie waren nachher
jedesmal beide ganz verstört.â (MoE 561) Aus dem Blickwinkel der immer to-
talitĂ€rer werdenden âmystischen Gesinnungâ des KleinbĂŒrgersohns lĂ€sst sich
diese inkommensurable Erfahrung freilich wieder ambivalenzfrei in die eigene
Ideologie integrieren, worauf schon Pekar hingewiesen hat :
Hans Sepp hĂ€lt viel von diesem perversen Spiel der Anreizung und UnterdrĂŒckung,
denn er sieht darin eine âGesinnungsprĂŒfungâ, deren Bestehen ihn in seiner Ideologie
bestĂ€rkt. Gerda aber wird nach und nach von diesen schattenhaften BerĂŒhrungen
und halben Umarmungen aufgerieben. Die Wiederbegegnung mit Ulrich lĂ€Ăt in ihr
deshalb die Hoffnung auf einen Ausweg aus dieser Situation entstehen.357
Bewusst legt sich die Tochter des Bankprokuristen allerdings eine ganz an-
dere ErklÀrung ihrer seltsamen Beziehung zum Geliebten zurecht : Sie begreift
die AnhĂ€nglichkeit an Hans und seine Ideologie als âOpferâ (MoE 552), dem
auch ihre Begierden unterworfen werden mĂŒssen. Damit versucht sie, ihr
âmetaphysische[s] BedĂŒrfnisâ (MoE 552) zu stillen â und befördert damit ge-
nau das, was Ulrich spĂ€ter als âSchleudermystikâ kritisieren wird (MoE 1088) :
Sie betreibt âeine Vermengung des grob irdischen Verhaltensâ ihrer Freund-
schaft zu Hans Sepp, die sie nur mit leichter Abscheu ertrĂ€gt, âmit den Erleb-
nissen eines Ă€uĂerst ungewöhnlichen und unbestimmbaren Ahnungszustan-
desâ (MoE 552).358 Zwar hat sie ihre Vereinigungssehnsucht tatsĂ€chlich von
den âĂŒberkommenen begrifflichen GlaubenshĂŒllenâ (MoE 553) gelöst, doch
nur, um sie âgleich wieder an eine Ideologie (hier die der âChristgermanenâ) zu
bindenâ359. Das mystische Einheitserlebnis verkommt ânach dem Zerfall der
verbindlichen Ordnungssysteme (wie Religion und Humanismus)â, es âflot-
tiertâ nun frei in der Gesellschaft und kann âvon allen möglichen sektiereri-
schen Bewegungen gleichsam aufgesogen und usurpiert werdenâ.360 Dabei ist
357 Ebd.
358 Die Argumentation folgt hier der Darstellung von Pekar, ebd., S. 241.
359 Ebd., S. 242.
360 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208