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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 907
âvon Liebe und Gemeinschaftâ zwar viel âdie Redeâ (MoE 482), in der Praxis
aber wenig zu spĂŒren. Die Ideologie von der menschlichen Vereinigung er-
weist sich somit zuvorderst als Funktion verschiedener distinktiver und kom-
pensatorischer Strategien.
In dem MaĂ, in dem sich deren soziale Bezugspunkte Ă€ndern, unterliegt
auch ihr diskursiver Ausdruck einem bemerkenswerten Wandel : Nachdem
spĂ€ter klar geworden sein wird, dass einerseits Ulrich fĂŒr Gerda nicht zu
haben ist und andererseits Hans Sepp sozial arriviert, prÀsentieren sich die
UmstÀnde in neuem Licht ; sogar die Eltern Fischel zeigen sich nun aufge-
schlossener, wie Leos ĂŒberraschend freundlicher Bericht an Ulrich offenbart :
ââHans Sepp hat die StaatsprĂŒfung gemachtâ erzĂ€hlte er. âWas sagt man dazu ?
Jetzt fehlt ihm nur noch ein Examen zum Doktor ! [âŠ] Hans Sepp hat uns
die Einladung fĂŒr heute abend besorgt, meine Frau wollte durchaus : soweit
ist der Bursche ja nicht ganz untĂŒchtig. Sie sind jetzt so halboffiziell verlobt,
Gerda und er. [âŠ]ââ (MoE 1007 f.). Auch Gerda selbst bekennt sich nunmehr
öffentlich in freilich âmĂŒhsam abgehackte[n] Antwortenâ (MoE 1017) zum
vordem nur verstockt geliebten Hans Sepp sowie indirekt auch zur Institu-
tion der Ehe, der sie doch bis dahin kaum etwas abgewinnen konnte. Die-
ses spÀte und widerwillige Bekenntnis zu den gesellschaftlich vorgegebenen
Vereinigungsformen signalisiert die resignierte Aufgabe ihres hochfahrenden
antibĂŒrgerlichen Liebeskonzeptes, dessen oppositioneller, wirklichkeitskriti-
scher Charakter dann offensichtlich wird, wenn man es mit dem trotz der
ehebrecherischen Konstellation prinzipiell affirmativen LiebesverstÀndnis Di-
otimas und Arnheims vergleicht : Dort trÀumen ja beide Beteiligten zumindest
vorĂŒbergehend von der bĂŒrgerlichen Ehe als Krönung ihrer Hoffnungen361,
wĂ€hrend Hans und Gerda viel prinzipieller auf eine âEntpanzerung des Ichâ
(MoE 555) hinarbeiten â und das gegen alle zur Entstehungszeit grassieren-
den âVerhaltenslehren der KĂ€lteâ362.
In diesem Zusammenhang sei abschlieĂend hervorgehoben, dass der
solchen Bestrebungen durchaus nicht generell abgeneigte, ja sichtlich um
VerstĂ€ndnis bemĂŒhte Ulrich363 kaum eine wirkliche âAffinitĂ€t zur Ideolo-
361 Vgl. dazu die AusfĂŒhrungen im nĂ€chsten Abschnitt.
362 Vgl. Lethen : Verhaltenslehren der KĂ€lte, bes. S. 133â234.
363 Ulrich erklÀrt sich mit dem von Gerda und Hans beschriebenen und angestrebten Zustand
bestens vertraut, indem er auf seine âGeschichte mit der Gattin des Majorsâ verweist : â[D]a -
mals habe ich all das kennen gelernt, woraus Sie, Ihre Freunde und Gerda Ihre groĂen Ge-
heimnisse machen.â (MoE 550) Wenig spĂ€ter heiĂt es noch deutlicher : âEr war es, der einen
Zusammenhang zwischen dem, was diese jungen Leute ihre Liebe, mit einem anderen Wort
auch die Gemeinschaft nannten, und den Folgen eines sonderbaren, wildreligiösen, unmytho-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208