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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 913
Arnheim vermag es, in ihr jenseits aller von Tuzzi erlernten Kriterien hinsicht-
lich eines âguten Umgangsâ ein Potenzial an Abenteuerlust zu aktivieren, dessen
Vorhandensein ihr vorher selbst nicht bewusst war und dessen Erfahrung ihr nun
aufgrund neuer Vergleichsmöglichkeiten zu vertiefter Selbsterkenntnis verhilft :
Diotimas Zustand lieà sich als Auflehnung gegen die Denkweise der Àlteren Diplo-
matenschule ausdrĂŒcken ; darum begriff sie sogleich die wundersame Ăhnlichkeit, die
zwischen ihrer und der Stellung dieses genialen AuĂenseiters bestand. Der berĂŒhmte
Mann hatte ihr ĂŒberdies, sobald es nur anging, seine Aufwartung gemacht, ihr Haus
war beiweitem [sic] das erste, dem diese Auszeichnung widerfuhr, und das EinfĂŒh-
rungsschreiben einer gemeinsamen Freundin sprach von der alten Kultur der Habs-
burgerstadt und ihrer Menschen, die der Arbeitsame zwischen unvermeidlichen Ge-
schĂ€ften zu genieĂen hoffe ; Diotima fĂŒhlte sich ausgezeichnet wie ein Schriftsteller,
der zum erstenmal in die Sprache eines fremden Landes ĂŒbersetzt wird, als sie daraus
entnahm, daĂ dieser berĂŒhmte AuslĂ€nder den Ruf ihres Geistes kannte. (MoE 108 f.)
Wie aus dieser Darstellung ersichtlich wird, treffen mit Arnheim und Diotima
zwei Romanfiguren aufeinander, die bestimmte Vorlieben wie die AffinitÀt
zu groĂen Worten und pathetischen Verlautbarungen wie auch generell ein
entwickeltes Bewusstsein von der eigenen Bedeutung teilen und somit jene
habituellen Homologien aufweisen, die dem subjektiven Entstehen von Liebe
objektiv förderlich sind.382 Die von Diotima so entzĂŒckt wahrgenommene
âwundersame Ăhnlichkeitâ wird denn auch sogleich von Arnheim empfunden,
der damit seinerseits die Diagnose gewisser homologer Strukturen bestÀtigt :
[A]uch Arnheim wurde entzĂŒckt, als er in Diotima eine Frau antraf, die nicht nur
seine BĂŒcher gelesen hatte, sondern als eine von leichter Korpulenz bekleidete Antike
auch seinem Schönheitsideal entsprach, das hellenisch war, mit einem biĂchen mehr
Fleisch, damit das Klassische nicht so starr ist. Es blieb Diotima bald nicht verbor-
gen, daà der Eindruck, den sie in einem GesprÀch von zwanzig Minuten Dauer auf
einen Mann mit wirklichen Weltbeziehungen zu machen imstande war, grĂŒndlich
alle Zweifel zerstreute, durch die ihr eigener, doch wohl in etwas veralteten diploma-
tischen Methoden befangener Mann ihre Bedeutung beleidigte. (MoE 109)
Da Diotima ihre intendierte Wirkung auf Arnheim nicht verfehlt, der so ganz
anders als Tuzzi reagiert, glaubt sie, mit ihm die in ihrer Ehe bestehenden
382 Vgl. Bourdieu : Von den Regeln zu den Strategien, S. 92. Mehr dazu unten im Abschnitt zu
Ulrich und Agathe.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208