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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 919
Die Analogien zu Ulrichs Empfindungen anlĂ€sslich der âGeschichte mit der
Gattin des Majorsâ sowie zu deren SchlĂŒsselstellung fĂŒr die weitere Entwick-
lung des Protagonisten sind nicht zu ĂŒbersehen, was den Mann ohne Eigen-
schaften und seinen so eigenschaftsstrotzenden Widersacher einander ĂŒber-
raschend annÀhert (wenngleich es fraglos entscheidende Differenzen gibt393,
auf deren Implikationen noch zurĂŒckzukommen sein wird). Auch Arnheim
verliert etwa â vorĂŒbergehend â seinen âmĂ€nnlichenâ Ehrgeiz und nimmt sein
verstörendes Erlebnis des âanderen Zustandsâ mehr körperlich als diskursiv
wahr :
Diese schwÀrmerische Ahnung, die ihm nun durch Diotima wieder in ihrer ganzen
UrsprĂŒnglichkeit gegenwĂ€rtig war, gebot jeder TĂ€tigkeit und Regsamkeit Stille, der
Tumult der jugendlichen WidersprĂŒche und die hoffnungsvollen wechselnden Aus-
sichten machten dem lautlosen Tagtraum Platz, daĂ alle Worte, Geschehnisse und
Forderungen in ihrer von der OberflÀche abgewandten Tiefe ein und dasselbe seien.
In solchen Augenblicken schwieg selbst der Ehrgeiz, die Ereignisse der Wirklichkeit
waren fern wie der LĂ€rm vor einem Garten, ihn dĂŒnkte, die Seele sei aus ihren Ufern
getreten und nun erst wahrhaft anwesend. Man kann nicht lebhaft genug versichern,
daĂ dies keine Philosophie war, sondern ein [âŠ] körperhaftes Erlebnis [âŠ]. (MoE
386)
Hier handelt es sich auch aus der Perspektive des ErzÀhlers keineswegs um
bloĂes GeschwĂ€tz. Die in Arnheims bisweilen verqueren und verquasten For-
393 So fÀhrt der junge Industriellenerbe angesichts seiner Erlebnisse nicht auf eine einsame Insel,
sondern bleibt stets in der bĂŒrgerlichen Welt : âIn diesem Zustand speiste zwar schon der junge
Paul Arnheim beherrscht in einem vornehmen Restaurant, ging sorgfÀltig gekleidet in jede
Gesellschaft und tat ĂŒberall das, was zu tun war ; aber man konnte sagen, daĂ es dabei von ihm
zu ihm ebensoweit war wie zum nĂ€chsten Menschen oder Ding, daĂ die AuĂenwelt nicht an
seiner Haut aufhörte und die Innenwelt nicht bloĂ durch das Fenster der Ăberlegung hinaus-
leuchtete, sondern daĂ sie beide sich zu einer ungeteilten Abgeschiedenheit und Anwesenheit
vereinten, die so mild, ruhig und hoch war wie ein traumloser Schlaf. In moralischer Beziehung
zeigte sich dann eine wahrhaft groĂe GleichgĂŒltigkeit und Gleichwertigkeit ; es war nichts klein
und nichts groĂ, ein Gedicht und ein KuĂ auf eine Frauenhand wogen ebensoviel wie ein
mehrbĂ€ndiges Werk oder eine politische GroĂtat, und alles Böse war so sinnlos, wie im Grund
auch alles Gute in diesem Umfangensein von der zÀrtlichen Urverwandtschaft aller Wesen
ĂŒberflĂŒssig wurde. Arnheim benahm sich also ganz wie gewöhnlich, nur schien es in einer
ungreifbaren Bedeutung zu geschehen, hinter deren zitternder Flamme der innere Mensch un-
beweglich stand und dem Ă€uĂeren zusah, der vor ihr einen Apfel aĂ oder sich vom Schneider
gerade einen Anzug anmessen lieĂ.â (MoE 386) Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass
sich das âUr- und Weltliebeserlebnisâ bei Arnheim vor seiner Begegnung mit Diotima âniemals
mit einer Frau verbundenâ hat (MoE 387).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208