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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 925
BerĂŒcksichtigt man mit Bourdieu, dass sich âim politischen Bereichâ patriar-
chalischer Gesellschaften âdie gleiche Arbeitsteilungâ wiederfindet, âdie auch
fĂŒr die Religion gilt und den MĂ€nnern die öffentliche, feierliche, kollektive
Religion ĂŒbertrĂ€gt, den Frauen dagegen die heimliche und geheime, private
Magieâ400, dann erscheinen MĂ€nner vor dem Hintergrund der herrschenden
Geschlechtertypologien als Vertreter der weithin sichtbaren âKulturâ, Frauen
hingegen als Vertreterinnen einer â wie immer definierten â vorderhand un-
sichtbaren âNaturâ. Diese âNaturâ gerĂ€t aus der Sicht jener (scheinbare) Selbst-
verstÀndlichkeiten produzierenden Doxa dann freilich zur allodoxia401 der
âUnnaturâ, wenn eine Frau die Grenze des privaten Raums verlĂ€sst und die
âmĂ€nnlicheâ Ehre in Frage stellt bzw. die offizielle Politik stört. In der âmĂ€nn-
lichen Herrschaftâ werden âNaturâ und âUnnaturâ also gleichermaĂen auf die
Frau projiziert, indem diese einerseits die ambivalente Vorstellung einer âna-
tĂŒrlichenâ, herrschaftsfreien Liebe im privaten Bereich verkörpert, welche ihre
Magie solange entfalten darf, als sie die Herrschaft stĂŒtzt ; andererseits kann die
âweiblicheâ Leidenschaft jedoch im öffentlichen Bereich sehr schnell zur âwider-
natĂŒrlichenâ Perversion gestempelt werden, wenn sie die Herrschaft gefĂ€hrdet.
Aspekte âweiblicherâ Macht finden deshalb meist im Schatten einer Steigerung
âmĂ€nnlicher Herrschaftâ statt, wie an Diotima zu sehen ist. Ihr RĂŒckzug aus
der Parallelaktion kĂ€me deshalb auch dem Verlust âweiblicher Magieâ als einer
StĂŒtze âmĂ€nnlicher Herrschaftâ gleich und wĂ€re mithin genauso irritierend wie
eine direkte Störung der politischen SphĂ€re durch die âMagieâ der Liebe. FĂŒr
Arnheim erscheinen Diotimas sexuelle WĂŒnsche daher als âUnnaturâ, auf die er
sich nicht einlassen kann, weshalb er auf der bloĂen Idee der Liebe ohne körper-
liche Verwirklichung beharrt. Nur in platonischer Form ist sie fĂŒr ihn âlegitimâ.
Am Beispiel der scheiternden Liebe zwischen Diotima und Arnheim, aber
auch an jener zwischen Gerda und Hans Sepp, lĂ€sst sich das UngenĂŒgen von
Luhmanns rein semantischer Analyse der modernen Liebe veranschaulichen,
die mit ihren inspirierenden Detailbeobachtungen im symbolischen Bereich
verharrt, soziale Positionen und stratifikatorische Differenzen indes vernach-
lĂ€ssigt.402 Eine sich âunmittelbarâ einstellende passionierte Zuneigung ist fĂŒr
400 Bourdieu : Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 91.
401 Gemeint ist mit dem oben (vgl. den Abschnitt zu Hans Sepp in Kap. II.2.1) schon verwende-
ten Begriff der allodoxia nach Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 42, jener sozial induzierte
âWahrnehmungs- und Bewertungsfehler, der darin besteht, etwas fĂŒr etwas ganz anderes zu
erkennenâ. Mehr dazu ebd., S. 386 u. 506 ; ders.: Meditationen, S. 184 u. 238.
402 Vgl. Luhmann : Liebe als Passion, bes. S. 21â39. Gerade auf Luhmanns Buch hat sich die Musil-
Forschung bei ihrer Interpretation der Geschwisterliebe indes gern bezogen : vgl. Pekar : Die
Sprache der Liebe, S. 12 f. u. 265 (Anm. 1) ; Zingel : Ulrich und Agathe, S. 106.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208