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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld930
Ulrich und Agathe erscheinen hier als âdie verrufenen Individualistenâ (M
V/1/38) innerhalb einer Gesellschaft, die sie beide ablehnen. Das bedeutet
aber keineswegs, dass sie einem ĂŒbersteigerten Individualismus frönen â ganz
im Gegenteil : Die von Ulrich und Agathe gebildete âFamilie zu zweienâ (MoE
715) fungiert romanstrukturell vielmehr als Gegenmodell zu jener âSelbst-
sucht zu zweienâ, die Ulrich an der frĂŒhen Ehe zwischen Walter und Clarisse
so âunangenehmâ gewesen ist (MoE 54), und sie tut das gerade durch ihre
âneomystischeâ Aufladung, wie eine Notiz vom November 1928 nahelegt, die
den âZustand der Liebeâ von den ĂŒblichen subjektivistischen Auffassungen
abhebt : âIm anderen Zustand rĂŒhrt das Persönliche an das Geheimnis des
Personseins. (an das per-sonare nach Klages) Es ist nicht SubjektivitÀt. Man
ist fast schon unpersönlich, nach der entgegengesetzten Richtung wie bei Ob-
jektivitĂ€t.â (M I/1/75) Ein rein individualistisches VerstĂ€ndnis des âanderen
Zustandsâ im Sinne romantischer SubjektivitĂ€t, wie es von der Forschung wie-
derholt vertreten wurde412, findet sich auch von der Romanfigur Ulrich selbst
zurĂŒckgewiesen, der etwa im Kapitelentwurf âSonderaufgabe eines Gartengit-
tersâ aus dem Jahr 1934 â einer frĂŒhen Fassung des spĂ€teren Kapitelentwurfs
âVersuche ein Scheusal zu liebenâ â stattdessen eine doppelseitige Struktur mit
Betonung der âAllozentrikâ413 skizziert :
Ich habe das groĂartig flunkernde Begriffspaar âegozentrisch und allozentrischâ er-
funden. Die Welt der Liebe wird entweder egozentrisch oder allozentrisch erlebt ;
die gewöhnliche Welt kennt aber nur Egoismus und Altruismus, ein im Vergleich
damit zanksĂŒchtig-vernĂŒnftiges Bruderpaar. Egozentrisch sein heiĂt fĂŒhlen, als trĂŒge
man im Mittelpunkt seiner Person den Mittelpunkt der Welt. Allozentrisch sein heiĂt,
ĂŒberhaupt keinen Mittelpunkt mehr haben. Restlos an der Welt teilnehmen und
nichts fĂŒr sich zurĂŒcklegen. Im höchsten Grad, einfach aufhören zu sein. Ich könnte
auch Hereinwendung der Welt und Hinauswendung des Ich sagen. Es sind die Exta-
412 Vgl. etwa Schmidt : Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 2, S. 286 f. Demnach âverliertâ
der mit dem âanderen Zustandâ experimentierende Ulrich âsich in seiner privaten Innerlich-
keitâ, ja er erliege der âGefahr einer in weltlosen und narziĂtischen Subjektivismus mĂŒndenden
Autonomie. Indem der Geniale sich in permanentem RegreĂ seines transzendentalen Ichs zu
bemĂ€chtigen versucht â eine Forderung, die sich Musil im RĂŒckgriff auf ein an Fichte erin-
nerndes Wort des Novalis [âŠ] notiert â, versĂ€umt er sein empirisch-reales Ich.â KontrĂ€r die
Deutung bei Neumann : Androgynie und Inzest, S. 175 f.; vgl. auch Fleig : Körperkultur und
Moderne, S. 271 f.
413 Vgl. schon Goltschnigg : Die Bedeutung der Formel âMann ohne Eigenschaftenâ, S. 344. Fuld :
Die Quellen zur Konzeption des anderen Zustands, S. 667, fĂŒhrt Musils Begriffsbildung auf die
Kulturpsychologie Hans BlĂŒhers zurĂŒck.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208