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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 933
Musil hat den Beginn des Zweiten Buchs â die Ankunft Ulrichs im elterli-
chen Totenhaus und das dort stattfindende Wiedersehen mit der Schwester
â nachgerade âwie den Beginn eines neuen Romans gestaltetâ418. Komposi-
tionell entspricht die im Vergleich zum Ersten Buch grundlegend verÀnderte
Szenerie etwa dem ersten Auftritt âAnmutige Gegendâ von Goethes Faust
II, der einen nach Margaretes Tod wie âneugeborenenâ Helden vor Augen
fĂŒhrt.419 Bei Musil figuriert zwar nicht unmittelbar ein âheilsamer Schlafâ des
problematischen mÀnnlichen Protagonisten ; ein solcher gerÀt im sozioanalyti-
schen Roman der Moderne (wie auch das Konzept der âHeilungâ eines schuld-
beladenen Helden ĂŒberhaupt) vielmehr unter den Verdacht des problemati-
schen Vergessens und VerdrÀngens. An die Stelle des faustischen Schlafes tritt
â fĂŒr den âintellektuellenâ Anspruch des Romans durchaus bezeichnend â eine
einsam durchwachte und durchdachte Nacht, in der Ulrich âverschiedenes in
Ordnung zu bringenâ trachtet (vgl. MoE 662â665, Zit. 662). Agathe hinge-
gen, als Frau wie Gretchen eindeutig Opfer der herrschenden VerhÀltnisse,
gibt sich tatsĂ€chlich âeiner Art Genesungsschlafâ hin (MoE 676). Sie knĂŒpft
(anders als offenbar Ulrich) auch groĂe Erwartungen an ihr Wiedersehen : Als
sie die Nachricht empfĂ€ngt, dass er komme, sagt sie sich : âHoffentlich werde
ich jetzt zum letzten Mal schlĂ€frig seinâ (MoE 676).420 Im Unterschied dazu
denkt der Bruder erst unmittelbar vor der Wiederbegegnung und ânicht ohne
Besorgnis an seine in der Provinz verheiratete Schwester, der er nun wohl in
wenigen Minuten begegnen sollte. Er hatte schon wÀhrend der Reise an sie
gedacht, denn er wuĂte nicht viel von ihr.â (MoE 672) Besonderes Kopfzer-
brechen bereitet ihm Agathes Heirat mit Hagauer, âder ihm miĂfielâ : âBei
dieser zweiten Hochzeit vor fĂŒnf Jahren war er [âŠ] dabei gewesen und hatte
seine Schwester durch einige Tage gesehn ; aber er erinnerte sich nur, daĂ
diese Tage wie ein Riesenrad aus lauter WeiĂzeug waren, das sich unablĂ€ssig
drehte.â (MoE 673) Ulrich mag âden zweiten Mannâ Agathes ânicht ausste-
hen : dies war das einzig Sichere ! Nicht nur nach dem persönlichen Eindruck
mochte er ihn nicht, sondern auch nach einigen BĂŒchern von ihm, die er ge-
lesen hatte, und es konnte schon sein, daĂ er seither seine Schwester nicht
ganz unabsichtlich aus dem GedĂ€chtnis verloren hatte.â (MoE 673) Mehr
noch : â[E]r muĂte sich gestehn, daĂ er sich sogar in dem letzten Jahr, wo er
an so vieles gedacht hatte, kein einziges Mal an sie erinnert hatte, und noch
418 Aurnhammer : Androgynie, S. 289.
419 Vgl. Goethe : Faust, S. 203â206 (V. 4613â4727). Durch sein zweifelhaftes Verhalten, das zum
Tod Gretchens gefĂŒhrt hatte, hat Heinrich ja eine gehörige Portion Schuld auf sich geladen.
420 Vgl. Zingel : Ulrich und Agathe, S. 72 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208