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Teil II: Romantext als
Kräftefeld934
bei der Todesnachricht nicht.“ (MoE 674) So entbehrt es nicht einer gewis-
sen Konsequenz, dass er sie seit ihrer Hochzeit „weder wiedergesehn, noch
einen Brief mit ihr gewechselt“ hat (MoE 673). Selbst den eher kärglichen
brieflichen Berichten des Vaters über Agathe hat Ulrich „bedauerlicherweise
niemals seine Aufmerksamkeit geschenkt“ (MoE 673). Dennoch freut er sich
unwillkürlich auf die „zwei oder drei Tage“, die er wie in einer „Klausur von
unbegrenzter Dauer“ „neben seiner Schwester verbringen werde“ (MoE 674).
Agathes provokante Missachtung der gesellschaftlichen Gepflogenheiten ei-
ner angemessenen Begrüßung, die man gemeinhin als Unfreundlichkeit oder
gar Desinteresse verbuchen würde, überrascht Ulrich hingegen positiv :
Daß sie weder zur Bahn, noch ans Haustor kam, erschien ihm allerdings als ein ver-
trauenerweckender Zug, und es zeigte sich darin eine gewisse Verwandtschaft des
Empfindens, denn genau genommen wäre es ebenso unbegründet gewesen, ihm ent-
gegenzueilen, wie wenn er selbst, kaum angekommen, an die Bahre seines Vaters
hätte stürzen wollen. (MoE 675)
Zunächst jedoch zeigt sich Ulrich ein wenig verstört : „Sie hätte mich doch
wenigstens in der Wohnung gleich begrüßen sollen !“ (MoE 675) Diese kon-
ventionelle Erwartung und die aus ihrer Enttäuschung resultierende Gemüts-
regung ist insofern bezeichnend, als sie dem Mann ohne Eigenschaften die
selbst für ihn erstaunliche, weil um gesellschaftliche Rücksichten völlig unbe-
kümmerte, radikale Kompromisslosigkeit Agathes vor Augen führt. Aus einer
unklaren Trotzhaltung will Ulrich die Schwester seine gemischte Empfindung
spüren lassen, indem er für ihre erste Begegnung einen wenig respektvollen
Anzug wählt :
Er wollte die Kleidung wechseln, und dabei kam ihm der Einfall, einen pyjamaartigen
Hausanzug anzulegen, der ihm beim Auspacken in die Hände fiel […], und es lag ein
wenig Zurechtweisung in der unbekümmerten Wahl dieses Kleidungstücks, obwohl
das Gefühl, seine Schwester werde schon irgendeinen Grund für ihr Verhalten haben,
der ihm gefallen könne, auch erhalten blieb und dem Umkleiden etwas von der Höf-
lichkeit verlieh, die in dem zwanglosen Ausdruck des Vertrauens liegt. / Es war ein
großer, weichwolliger Pyjama, den er anzog, beinahe eine Art Pierrotkleid, schwarz-
grau gewürfelt und an den Händen und Füßen ebenso gebunden wie in der Mitte ;
er liebte ihn wegen seiner Bequemlichkeit, die er nach der durchwachten Nacht und
der langen Reise angenehm fühlte, während er die Treppe hinabstieg. Aber als er das
Zimmer betrat, wo ihn seine Schwester erwartete, wunderte er sich sehr über seinen
Aufzug, denn er fand sich durch geheime Anordnung des Zufalls einem großen, blon-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208