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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 935
den, in zarte graue und rostbraune Streifen und WĂŒrfel gehĂŒllten Pierrot gegenĂŒber,
der auf den ersten Blick ganz Àhnlich aussah wie er selbst. (MoE 675 f.)
Wiederum erweist sich die vergleichsweise gröĂere UnbekĂŒmmertheit der
Schwester fĂŒr gesellschaftliche Konvenienzen, da sie den legeren Hausanzug
im Unterschied zum Bruder ganz ohne despektierliche Hintergedanken ange-
legt hat. Abgesehen von dieser kleinen Differenz zeugt die ohne jede Abspra-
che so Àhnlich gewÀhlte Kleidung der beiden bei ihrem ersten Wiedersehen
tatsĂ€chlich von jener âVerwandtschaft des Empfindensâ, die Ulrich schon in
Agathes provokanter Abwesenheit bei seiner Ankunft wahrgenommen hat :
Die Geschwister wirken sogleich wie âdie vertrautesten Leute auf der Weltâ
(MoE 674). Die analoge Kleiderwahl hat darĂŒber hinaus auch eine wichtige
romanstrukturelle Funktion : âDie Pierrot-Kleidung symbolisiert bei Bruder
und Schwester ihr Verlassen der Vater-Welt (daher auch die Begegnung anlĂ€Ă-
lich des Todes ihres Vaters), den Austritt aus ihren nach Geschlecht aufgestell-
ten RollenidentitĂ€tenâ421 â und damit einen weiteren Schritt in die angestrebte
gesellschaftliche âEigenschaftslosigkeitâ. Ganz unwillkĂŒrlich ruft Agathe aus :
ââIch habe nicht gewuĂt, daĂ wir Zwillinge sind !â [âŠ], und ihr Gesicht leuch-
tete erheitert auf.â (MoE 676) Dieses âAufleuchtenâ drĂŒckt nicht allein âdas
Erkenntnismoment des Wiedersehensâ in der Funktion einer herkömmlichen
Anagnorisis aus, sondern zeigt ĂŒberdies im Sinne des Androgyniediskurses,
dass âsich die Geschwister durch ihre fast gleichen Pierrot-AnzĂŒge als spie-
gelbildliche symbola erkennenâ.422 Achim Aurnhammer interpretiert die Be-
deutung des PierrotkostĂŒms, das von der Musil-Forschung vor ihm ĂŒbersehen
worden sei, wie folgt :
Genaugenommen liegt eine Verschmelzung zweier Typen der Commedia dellâarte vor,
das Domino-Muster stammt von Harlekin, von Pierrot der Schnitt der Kleidung. Die
Kontamination ist nicht verwunderlich, denn beide sind sich sehr Àhnlich. Harlekin
besitzt keine IdentitĂ€t ; daraus resultiert seine Vorliebe fĂŒr Verkleidungen. Der hĂ€u-
fige Wechsel von MÀnner- und Frauenkleidern verrÀt zudem, wie schwankend sein
ZugehörigkeitsgefĂŒhl zu einem Geschlecht ist. So erscheint das hermaphroditische
KostĂŒm (halb Mann, halb Frau), das er oft trĂ€gt, als angemessener Ausdruck seiner
eigenschaftslosen Natur. Sein DoppelgÀnger Pierrot verkörpert in Àhnlicher Weise
ein bisexuelles Wesen. Beider weiblicher Widerpart, Colombina, stellt nicht nur eine
Projektion des Harlekin- bzw. PierrotkostĂŒms ins Weibliche dar. Sie verkörpert, wie
421 Schwartz : Musils Frauenbild, S. 323.
422 Aurnhammer : Androgynie, S. 289.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208