Seite - 937 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 937 -
Text der Seite - 937 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 937
lĂ€uft, dass einzelne Menschen sich nicht mehr primĂ€r ĂŒber ihre Zugehörigkeit
zu einem scheinbar ĂŒbergeordneten âschwachenâ oder âstarkenâ Geschlecht
defi nieren, sondern dieses sich in einem je individuellen â zwar nach wie vor
gesellschaftlich codierten, aber nicht mehr kollektiv aufgezwungenen â Cha-
rakter manifestiert. In Musils Worten : âNicht mehr der unpersönliche Ge-
schlechtsunterschied hĂ€tte sich in der Kleidung auszudrĂŒcken, sondern der
das Geschlecht vertausendfachende Unterschied der Persönlichkeitenâ (GW
8, 984), der somit die als âEigenschaftlichkeitâ ĂŒberkommene, schematisch-
binĂ€re GeschlechterpolaritĂ€t ersetzt. Eine Ăhnlichkeit oder gar Gleichheit der
Kleidung ĂŒber die nur scheinbar stabilen Geschlechtsgrenzen hinweg signali-
siert folglich zumindest in der literarisch gestalteten âWirklichkeitâ des Romans
auch eine NĂ€he der âPersönlichkeitenâ, hier also der beiden Geschwister â ein
Befund, der in soziologischer Hinsicht noch zu diskutieren sein wird.
ZunÀchst aber gilt es zu zeigen, dass und inwiefern Musil mit seiner Po-
lemik gegen jede schematisch-binÀre GeschlechterpolaritÀt keineswegs eine
singulĂ€re Position einnimmt, sondern im Gegenteil einen unter KĂŒnstlern und
Intellektuellen des ersten Jahrhundertdrittels geradezu modischen Diskurs
aufgreift : Es handelt sich um die im Zusammenhang der Liebesdichtung tra-
ditionsreiche Thematik der Androgynie427, die um und nach 1900 etwa bei so
unterschiedlichen Autoren wie Thomas Mann, Georg Trakl und Alfred Kubin
oder â auĂerhalb des deutschen Sprachraums â bei Jean Cocteau und Virginia
Woolf kĂŒnstlerisch und essayistisch gestaltet wird. Die Ă€sthetische und inhalt-
liche AttraktivitĂ€t des Modethemas âAndrogynieâ fĂŒr die essayistische Roman-
konzeption Musils liegt unter anderem in folgender Struktur begrĂŒndet : âDas
Androgynie-Motiv hÀlt sich nicht an Tatsachen, sondern an Denkbares. Ihre
Ă€sthetische Ăberspielung der Wirklichkeit eröffnet der Androgynie ein breites
Spektrum.â428 Hier fand das um die leitenden Grundbegriffe âEigenschaftslo-
sigkeitâ und âMöglichkeitssinnâ/Essayismus angeordnete Romangeschehen
427 Vgl. dazu die mittlerweile âklassischeâ Studie von Aurnhammer : Androgynie, bes. S. 209â218,
sowie die BeitrÀge zu dem von Hans Weichselbaum herausgegebenen Sammelband : Andro-
gynie und Inzest in der Literatur um 1900. Zum zentralen Begriff erlÀutert Aurnhammer : An-
drogynie, S. 2 : ââAndrogynieâ heiĂt wörtlich âMannweiblichkeitâ.â Als Arbeitsgrundlage sei es
aber sinnvoll, âden Begriff in einer umfassenderen Bedeutungâ zu verwenden, âdie der FĂŒlle der
Antworten auf die Frage, wie eins aus zwei werden kann, entsprichtâ, etwa im Sinne der âRe-
lation zweier komplementĂ€rer Elementeâ, âdie eins waren, eins sind oder eins sein möchten,
sofern die KomplementaritĂ€t geschlechtlich erkennbar ist.â Als âklassischeâ Adaptationen des
Androgyniemotivs seien folgende Gedichte erwÀhnt : Goethes Warum gabst du uns die Tiefen
Blicke (1776, bes. V. 27 f.), Schillers Das Geheimnis der Reminiszenz (1782, bes. V. 21â30) sowie
Hölderlins Diotima [jĂŒngere Fassung] (1799, V. 13 f.).
428 Aurnhammer : Androgynie, S. 4.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208