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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld948
Solche Bemerkungen machte Ulrich oft, die sie fĂŒr Augenblicke ganz mit GlĂŒck
oder UnglĂŒck erfĂŒllten, obwohl man sich diese Augenblicke nicht âaufhebenâ konnte.
Wann, fragte sich Agathe, hatte er zum Beispiel gesagt, daà er unter UmstÀnden ei-
nen Dieb lieben könnte, einen Menschen, der gewohnheitsmĂ€Ăig ehrlich sei, aber
niemals ? Sie konnte sich im Augenblick nicht darauf besinnen, aber das Köstliche
war, daĂ sie sehr bald inne wurde, gar nicht er, sondern sie selbst habe das behauptet.
Ăberhaupt hatte sie sich schon vieles von dem, was er sagte, selbst gedacht ; bloĂ
ohne Worte [âŠ] ! (MoE 730)
Derartige Formen geschwisterlicher NĂ€he, die sich metaphorisch etwa in der
Rede von den âsiamesischen Zwillingenâ niederschlĂ€gt (vgl. MoE 899), haben
nicht nur eine individualpsychologische483, sondern auch eine soziale Dimen-
sion : Plausibilisiert wird die von Musil narrativ entworfene Vertrautheit zwischen
den Geschwistern etwa durch die Befunde der neueren Soziologie, wonach sich
in der gegenseitigen NĂ€he jene â(als Sympathie empfundene) spontane AffinitĂ€tâ
niederschlĂ€gt, âdie Akteure mit Ă€hnlichem Habitus und Geschmack zusammen-
fĂŒhrt, das heiĂt Akteure, die aus Ă€hnlichen sozialen Lagen und Konditionen her-
vorgegangen sindâ.484 Im Falle Ulrichs und Agathes gilt dies umso mehr, als es
sich hier nicht bloĂ um eine ĂŒbliche Art der âHomogamieâ485 handelt, sondern
um ein ganz besonders homologes, weil innerfamiliÀres VerhÀltnis mit stark in-
zestuöser Tendenz, das eben eine spezifische soziale Möglichkeitsbedingung fĂŒr
Vertrautheit darstellt, wie sich bei der zweiten Begegnung zeigt :
Zum erstenmal sah sie Ulrich als Frau gekleidet und hatte nach dem gestrigen Ein-
druck geradezu den, daĂ sie verkleidet sei. [âŠ] Und weil die Erscheinung ihm heute
im Ganzen unĂ€hnlicher war, bemerkte er die Ăhnlichkeit des Gesichts. Es war ihm
zumute, er wĂ€re es selbst, der da zur TĂŒr eingetreten sei und auf ihn zuschreite : nur
schöner als er und in einen Glanz versenkt, in dem er sich niemals sah. Zum ersten-
mal erfaĂte ihn da der Gedanke, daĂ seine Schwester eine traumhafte Wiederholung
und VerĂ€nderung seiner selbst sei [âŠ]. (MoE 694)
483 Dettmering : Die DoppelgĂ€nger-Phantasie, S. 457, betont âdie Entsprechung zwischen Ulrichs
wiedergefundenem Selbst und dem Wiederfinden der Schwesterâ aus einer gĂ€ngigen psycho-
analytischen Sicht : âAgathe ist â mit einem von Sigmund Freud verwendeten Begriff â die
âMaterialisationâ von Ulrichs weiblicher Seite, was aber nicht allein seine passiv-feminine Ein-
stellung zum Vater, sondern ebenso die aus der Mutter-Tochter-Beziehung herrĂŒhrende [?]
harmonischere Beziehung zur Welt betrifftâ.
484 Bourdieu : Von den Regeln zu den Strategien, S. 92. Mehr dazu in ders.: Die feinen Unter-
schiede, S. 105 f., bes. aber in ders.: Sozialer Sinn, S. 111â114 u. 285â287.
485 Ebd., S. 114 ; Bourdieu : Von den Regeln zu den Strategien, S. 92.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208