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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 949
Das âuralteâ âVerlangen nach einem DoppelgĂ€nger im anderen Geschlechtâ,
von dem Ulrich spricht, scheint in seiner Geschwisterliebe mit Agathe zumin-
dest kurzzeitig verwirklicht zu werden :
Es will die Liebe eines Wesens, das uns völlig gleichen, aber doch ein anderes als wir
sein soll, eine Zaubergestalt, die wir sind, die aber doch eben auch eine Zauberge-
stalt bleibt und vor allem, was wir uns bloà ausdenken, den Atem der SelbstÀndigkeit
und UnabhÀngigkeit voraushat. UnzÀhlige Male ist dieser Traum vom Fluidum der
Liebe, das sich, unabhÀngig von den BeschrÀnkungen der Körperwelt, in zwei gleich-
verschiedenen Gestalten begegnet, schon in einsamer Alchimie den Retorten der
menschlichen Köpfe entstiegen â (MoE 905)
Angesichts dieses Hintergrundes erscheint auch Agathe als âunwirkliche, er-
dichtete Schwesterâ, als âein erdichteter DoppelgĂ€nger voll spiegelfechteri-
scher Anmut, der die Angst der Einsamkeit zur ZĂ€rtlichkeit eines einsamen
Beisammenseins mildertâ (MoE 1337 f.), wie der spĂ€te Kapitelentwurf âDas
Sternbild der Geschwister oder Die Ungetrennten und die Nichtvereintenâ in
anderem Zusammenhang formuliert.
Auch der kanonische Romantext deutet an, dass man sich dem (in Mu-
sils Brief an Blei vom 31. Mai 1931 ausdrĂŒcklich beanspruchten) Ăbergang
vom persönlichen zum sozialen Komplex der Geschwisterliebe (vgl. Br 1, 519)
historisch kontextualisierend nÀhern kann. Dies scheint nicht nur mit Blick
auf die von Ulrich angefĂŒhrten âaltenâ mythologischen Kontexte möglich486,
sondern ebenso, indem man einen zeitgenössischen soziologischen Entwurf
zur Deutung der im Mann ohne Eigenschaften gestalteten NĂ€he zwischen den
beiden Geschwistern heranzieht. Die sozioanalytische Interpretation insbe-
sondere des Kapitels âFamilie zu zweienâ (MoE 715â725) kann auf Georg
Simmels kleinen mikrosoziologischen Essay Die Gesellschaft zu zweien487
zurĂŒckgreifen, den Musil gegen Ende seiner Berliner Studienzeit in seinem
Arbeitsheft 11 auszugsweise exzerpiert hat.488 In diesem kleinen Aufsatz zu
den gewissermaĂen als âKeimzelleâ von Gesellschaftlichkeit fungierenden af-
fektiven Zweierbeziehungen argumentiert der Soziologe gegen die BeschrÀn-
486 Vgl. seine das oben stehende Zitat einleitende Bemerkung : âSo wie an den Mythos vom Men-
schen, der geteilt worden ist, könnten wir auch an Pygmalion, an den Hermaphroditen oder an
Isis und Osiris denken : es bleibt doch immer in verschiedener Weise das gleiche.â (MoE 905)
487 Zuerst erschienen in : Der Tag 118 (5. MĂ€rz 1908).
488 Nur auf die Ăhnlichkeit der Titelformulierung von Simmels Essay und Musils Romankapitel
sowie auf die prinzipielle Möglichkeit inhaltlicher Korrespondenzen, der sie aber nicht nach-
geht, verweist Zingel : Ulrich und Agathe, S. 100 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208