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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 951
Mann ohne Eigenschaften mit seiner neuen Theorie der subjektauflösenden In-
timitĂ€t wendet, die bei allem Anschein von âAsozialitĂ€tâ einen zutiefst sozialen
Hinter- und Bezugsgrund hat.
Dass Musil sich schon lange vor Beginn seiner Arbeit am Mann ohne Eigen-
schaften ĂŒber die sozialen Voraussetzungen und Implikationen der scheinbar
âasozialenâ Impulse seiner Figuren im Klaren war, zeigt sein kondensierendes
Simmel-Exzerpt : âDie Meisten sehen als das Wertvolle an sich ihr Individu-
elles an, wÀhrend vielleicht gerade nur das Typische die Wertsubstanz ihrer
Persönlichkeit ist.â (Tb 1, 183) Die unmittelbare Fortsetzung der von Musil
zitierten Simmel-Passage widmet sich indes den sozial distinktiven Grund-
lagen der Entstehung von IntimitÀt und verwendet dabei ein Vokabular, das
wohl nicht von ungefĂ€hr auf den programmatischen Titel von Musils frĂŒhen
Novellen (1911) vorausdeutet : âDies wiederholt sich an Vereinigungen. Auch
ihnen liegt es nahe, das ganz Spezifische ihrer Inhalte, das ihre Teilnehmer
nur miteinander, aber mit niemand auĂerhalb dieser Gemeinschaft teilen, zum
Zentrum und zur eigentlichen ErfĂŒllung dieser Gemeinschaft werden zu las-
sen. Das ist die Form der IntimitĂ€t.â493 Die affektive KohĂ€sionskraft intimer
VerhĂ€ltnisse fĂŒhre dazu, dass die Persönlichkeitsstruktur der Beteiligten einer
VerÀnderung im Sinne einer inneren Schwerpunktverlagerung unterliege, was
auf ihr VerhĂ€ltnis zu Ă€uĂeren sozialen ZwĂ€ngen zurĂŒckwirke :
Indem sich innerhalb eines VerhÀltnisses der eine nur nach der dem anderen zuge-
wandten Seite hin empfindet, sich nur mit RĂŒcksicht auf ihn benimmt, gewinnen
seine Eigenschaften, obgleich sie natĂŒrlich immer die seinigen sind, doch eine ganz
andere FĂ€rbung, Stellung, Bedeutung, als wenn sie, auf das eigene Ich bezogen, sich
in den Gesamtkomplex dieses verweben. Daraufhin kann fĂŒr das BewuĂtsein jedes
der beiden das VerhĂ€ltnis zu einer Wesenheit auĂerhalb seiner kristallisieren, die
Mehr und Besseres â unter UmstĂ€nden auch Schlechteres â ist als er selbst, gegen die
telbaren Alltagsleben spĂŒrbar, welches das Individuum [âŠ] an seine IdentitĂ€t fesselt, ihm ein
Gesetz der Wahrheit auferlegt, das es anerkennen muĂ und das andere in ihm anerkennen
mĂŒssen. Es ist eine Machtform, die aus Individuen Subjekte macht.â Foucault fordert deshalb â
wie schon Musil â, nicht âzu entdecken, als vielmehr abzuweisen, was wir sind.â (S. 250)
493 Simmel : Die Gesellschaft zu zweien, S. 351. Aus den Aporien der IntimitÀt resultiert nach
Simmel freilich auch eine eminente âGefahr fĂŒr enge Zweierverbindungenâ (ebd., S. 353), die
deshalb extrem störanfÀllig sind und sich insbesondere vor Gewöhnungserscheinungen in Acht
nehmen mĂŒssen : âDaĂ gerade den VerhĂ€ltnissen zu zweien, der Liebe, der Ehe, der Freund-
schaft [âŠ] der Ton der TrivialitĂ€t oft zur Verzweiflung und zum VerhĂ€ngnis wird, beweist, wie
sehr die soziologische Form hier an der IndividualitÀt ihrer Elemente festgehalten ist und wie
sehr an sie die Forderung eines individuellen Wertes ergeht, die der mehrgliedrigen gegenĂŒber
erlischt.â (S. 351)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208