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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld952
er Verpflichtungen hat, und von der ihm wie von einem objektiven Sein GĂŒter und
Schicksale kommen.494
Intime Zweierbeziehungen befördern Simmel zufolge weniger den von ge-
sellschaftlich vermittelten âEigenschaftenâ bedrohten Stellenwert eines als
vollkommen unabhÀngig imaginierten Subjekts, vielmehr gerade die soziale
Seite des Individuums, dessen Identifizierung als Subjekt nicht allein durch die
Zuschreibungen seitens der modernen, âverwaltetenâ Massengesellschaft, son-
dern â wie Foucault gezeigt hat495 â eben auch durch deren individuelle Inkor-
porierung erfolgt. Die IntimitĂ€t des âanderen Zustandsâ steht demnach nicht in
Widerspruch zu sozialen Verbindungen ĂŒberhaupt, sondern zu den herkömm-
lichen Vorstellungen eines scharfen Antagonismus zwischen nivellierender
Gesellschaft auf der einen und subjektiver AuthentizitÀt auf der anderen Seite.
Zu den soziologischen Implikationen von Zweierbeziehungen fĂŒhrt Simmel
aus : âDas Sozialgebilde ruht unmittelbar auf dem einen und auf dem andern.
Der Austritt jedes einzelnen wĂŒrde das Ganze zerstören, so daĂ es nicht zu
jener ĂŒberpersönlichen Existenz desselben kommt, die der einzelne als von
sich unabhĂ€ngig fĂŒhltâ.496 Musils und Agathes Rede von der âletzte[n] Liebes-
geschichteâ (Br 1, 615 ; MoE 1094) â also von einer einzigartigen Konstellation
â erhĂ€lt in diesem mikrosoziologischen Kontext besondere Virulenz ; auch
Simmel bemerkt ausdrĂŒcklich : âEs sind keineswegs nur erotische Beziehun-
gen, die durch die Vorstellung : ein solches Erlebnis habe es ĂŒberhaupt noch
nicht gegeben â einen besonderen und bedeutsamen Timbre, ganz ĂŒber ihren
sonst angebbaren Inhalt und Wert hinaus, bekommen.â497 Wohl nicht zufĂ€llig
494 Ebd., S. 353.
495 Vgl. auch die an Foucault geschulte Musil-Deutung von Balke : Auf der Suche nach dem âande-
ren Zustandâ, S. 309 : âDer andere Zustand ist auf unsere FĂ€higkeit angewiesen, die AnsprĂŒche
der Macht und des Wissens so weit âeinzuklammernâ, daĂ ein Spielraum entsteht, in dem sich
der Bezug zu sich selbst entfalten kann. Das Subjekt, um das es hier geht, ist weder dasjenige,
das konkurrierende WissensansprĂŒche auf ihre GĂŒltigkeit hin ĂŒberprĂŒft und sich so als primĂ€r
erkennendes konstituiert, noch ist es das gemeinhin als âethischâ verstandene Subjekt der Ver-
antwortung, das aus bestimmten âGrundsĂ€tzenâ heraus dem Lauf der Dinge zustimmt oder
ihm im Namen dieser oder anderer GrundsÀtze den Kampf ansagt. Das Subjekt bezeichnet
auch nicht die SphĂ€re einer âmachtgeschĂŒtzten Innerlichkeitâ, die anthropologisch âgegebenâ
und durch eine Kluft vom AuĂen getrennt wĂ€re ; vielmehr wird es durch eine Operation her-
vorgebracht, die dem AuĂen einen Innenraum abgewinnt. Zwischen AuĂen und Innen besteht
KontinuitÀt, sie sind unterschieden, aber nicht getrennt : das Innen ist nicht etwas anderes als
das AuĂen, sondern dessen KrĂŒmmung und daher mit ihm koextensiv.â
496 Simmel : Die Gesellschaft zu zweien, S. 349.
497 Ebd., S. 350.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208