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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 959
gerfigur : âReichsgrĂŒnder haben keine Ahnen !â (MoE 1830) â, doch kann er
sich nicht zu einer gesellschaftlich wirklich folgenreichen Ablehnung durch-
ringen. âDieser VorstoĂ bleibt einer weiblichen Figur vorbehalten, die zwar
nicht auĂerhalb der symbolischen Ordnung, aber doch quer zu der Vertika-
litĂ€t ihrer mĂ€nnlichen Erbfolge steht.â513 Hier wird der bereits wiederholt
angedeutete habituelle â und nicht zuletzt durch die soziale Codierung der
Geschlechtsdifferenz erworbene â Unterschied zwischen den beiden Haupt-
figuren schlieĂlich handlungsbestimmend : Zwar hĂ€tte Agathe âso bestimmte
Behauptungenâ wie Ulrich, âauf sich allein angewiesen, wie sie frĂŒher war,
niemals aufgestelltâ (MoE 730), doch bedarf es der âzum Aufruhr gebore-
nenâ (MoE 859) Schwester, um die hĂ€retischen Diskurse des handlungsge-
hemmten Intellektuellen in eine subversive Tat umzusetzen. Es geht bei ihrem
Tun zu Beginn der verbotenen Geschwisterliebe um nichts weniger als um
den âGrĂŒndungsakt des âVerbrechensâ, der den Raum oder das âReichâ dieses
Abenteuers eröffnet. In einer dreifach gestaffelten Transgression handeln die
Geschwister dem Willen des Vaters zuwider, und jedesmal ist es Agathe, die
die Initiative ĂŒbernimmt.â514 Nur sie hat âeine Art, Unrecht zu tun, die den
Gedanken an Unrecht nicht aufkommenâ lĂ€sst (MoE 705), was entsprechen-
des Handeln erleichtert und sich im VerstoĂ gegen die vĂ€terlichen VerfĂŒgun-
gen zur Ordensfrage (vgl. MoE 694 f. u. 705 f.), in der bereits analysierten515
Strumpfbandszene (vgl. MoE 707) sowie in der eigentlichen FĂ€lschung des
Testaments (vgl. MoE 792â802) niederschlĂ€gt. Stets geht sie mit ihrem âzö-
gernd fĂŒhrenden Willenâ voran, âder den seinen jugendlichâ ergreift (MoE
706). Sie â und nicht Ulrich â ist tatsĂ€chlich kompromisslos und ohne Hinter-
tĂŒr oder Auffangnetz bereit, âdas Gebiet der moralischen Umfriedung zu ver-
lassen und sich auf jene grenzenlose Tiefe hinauszuwagen, wo es keine andere
Entscheidung gibt als die, ob man steigen wird oder fĂ€lltâ (MoE 797), wie es in
Anlehnung an Ulrichs Entwurf einer moralinfreien âMoral des âSteigens oder
Sinkensââ (MoE 827 ; vgl. MoE 770) heiĂt. âEinen unerlaubten oder geheimen
Weg zu gehn : darin fĂŒhlte sie sich Ulrich ĂŒberlegen. Sie hörte, wie er immer
wieder vorsichtig alles zurĂŒcknahm, wozu er sich hinreiĂen lieĂâ (MoE 771).
Agathe schiebt Ulrichs Bedenken einfach beiseite, als sie sich ohne langes Fe-
derlesen zum aktiven Eingriff in den vĂ€terlichen âLetzten Willenâ entschlieĂt,
und stellt damit auch die ĂŒberkommene Geschlechterordnung auf den Kopf :
513 Ebd., S. 362.
514 Ebd., S. 362 f.; Genaueres zur âSuperioritĂ€t Agathesâ findet sich in Hartwig : Poetik der Ăber-
einstimmung, S. 136â139.
515 Vgl. die AusfĂŒhrungen zu Agathe in Kap. II.2.2.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208