Web-Books
im Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Geisteswissenschaften
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Seite - 962 -
  • Benutzer
  • Version
    • Vollversion
    • Textversion
  • Sprache
    • Deutsch
    • English - Englisch

Seite - 962 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts

Bild der Seite - 962 -

Bild der Seite - 962 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts

Text der Seite - 962 -

Teil II: Romantext als KrĂ€ftefeld962 Die offenkundige Sonderrolle, welche die Schwester fĂŒr Ulrich spielt519, liegt unter anderem in ihrer zumindest retrospektiven Ersatzfunktion fĂŒr die feh- lende Mutter sowie in der durch sie reprĂ€sentierten Aufhebung der gesell- schaftlichen Affektschranken begrĂŒndet : Der Umgang mit der vertrauten weiblichen Figur erlaubt ihm wie kein anderer, seine eigene EmotionalitĂ€t uneingeschrĂ€nkter zu erkennen und auszuleben. „Mit Agathe wird Ulrich eine Figur zur Seite gestellt, die nicht nur von vornherein offen fĂŒr seine Über- legungen den Anderen Zustand betreffend sind [sic], sondern diese sogar vorantreibt.“520 Zingel betont zu Recht „den geistigen Einfluß, den sie auf ih- ren Bruder ausĂŒbt“521, wobei dieser eben wiederum nicht diskursiv erfolgt, sondern durch eine suggestiv erscheinende soziale Praxis.522 Von feministi- scher Seite wurde hingegen ganz prinzipiell Kritik geĂŒbt, denn Musil bleibe mit seiner Darstellung „innerhalb einer patriarchalisch-binĂ€ren Denkweise verfangen“523. Der kritischen Deutung der Musil’schen Geschwisterdarstel- 519 Vgl. Zingel : Ulrich und Agathe, S. 63 : „Die Figur der Agathe ist auf einer qualitativ anderen Ebene angesiedelt [als die anderen Frauenfiguren des Romans, N. C. W.], sie ist die Partnerin, mit der Ulrich zusammen einen Ausweg aus der ‚Welt des Seinesgleichen‘ sucht. In ihr erkennt er sich wieder, sie hat wie er Sehnsucht nach einem anderen Leben und kennt einen ‚anderen Zustand‘, der sie fasziniert und den sie wieder erreichen will.“ Dementsprechend ist Agathe er- zĂ€hltechnisch mit einer eigenstĂ€ndigen Perspektive ausgestattet, welche auf die Darstellung des geschwisterlichen VerhĂ€ltnisses zurĂŒckwirkt : „Die Geschwister bedeuten etwas fĂŒreinander – ihr Zusammenleben ist ein Gemeinschaftsprojekt, ein neues Wir soll der ‚Welt des Seinesgleichen‘ entgegengesetzt werden. Statt der auf das Einzelwesen Ulrich konzentrierten psychologischen Dimension kommt so eine gesellschaftliche Dimension und eine dritte GrĂ¶ĂŸe zwischen Ich und Welt ins Spiel : das Wir, bestehend aus einem sich liebenden Geschwisterpaar.“ (S. 64) 520 Ebd., S. 71. 521 Ebd. 522 Vgl. dagegen die biografistisch argumentierende Fundamentalkritik von Hehner : Erkenntnis und Freiheit, S. 412, die sich allein auf diskursive Aussagen der Figuren konzentriert und in folgendes Fazit mĂŒndet : „Bei nĂ€herem Hinsehen bezĂŒglich der bezaubernden ‚Geschwister- gesprĂ€che‘ stellt man aber fest, daß hier gar kein Dialog stattfindet [
]. Ist Ulrich vernichtend kritisch gegenĂŒber Falschheit, um auf dem freigewordenen Platz konstruktiv zu werden, so ist Agathe steril destruktiv.“ 523 Zwar betont Schwartz : Musils Frauenbild, S. 324, das utopische Experiment des ‚anderen Zu- stands‘ ziele auf die „Erfahrung einer ‚weiblichen‘ Verhaltens- und Wahrnehmungsweise“. In ihrer Argumentation folgt sie aber der fragwĂŒrdigen – weil in keiner Weise philologisch plausi- bilisierten – These einer Arbeit von Lisa Appignanesi, wonach Musils Konzeption der Agathe „auf den Spuren Jungs“ wandle (ebd., S. 323). Agathe erfĂŒlle demnach „eine ErgĂ€nzungsfunk- tion in Bezug auf ihren Bruder, als seine verdrĂ€ngte oder eher vernachlĂ€ssigte Anima, die er zur (Wieder-)Erlangung einer gespaltenen androgynen Ganzheit braucht“. Als argumentativer GewĂ€hrsmann dient hier C. G. Jung, der „sowohl beim Mann als auch bei der Frau vom ande- ren Geschlecht, von Anima und Animus in der Psyche spricht“. Dennoch seien bei Jung Reste „einer traditionell mĂ€nnlichen Denkweise“ am Werk, „die wir auch bei Musil wiederfinden ; der
zurĂŒck zum  Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
FWF-E-Book-Library
Titel
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Untertitel
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Autor
Norbert Christian Wolf
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2011
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
1224
Schlagwörter
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
Web-Books
Bibliothek
Datenschutz
Impressum
Austria-Forum
Austria-Forum
Web-Books
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion