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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld962
Die offenkundige Sonderrolle, welche die Schwester fĂŒr Ulrich spielt519, liegt
unter anderem in ihrer zumindest retrospektiven Ersatzfunktion fĂŒr die feh-
lende Mutter sowie in der durch sie reprÀsentierten Aufhebung der gesell-
schaftlichen Affektschranken begrĂŒndet : Der Umgang mit der vertrauten
weiblichen Figur erlaubt ihm wie kein anderer, seine eigene EmotionalitÀt
uneingeschrĂ€nkter zu erkennen und auszuleben. âMit Agathe wird Ulrich eine
Figur zur Seite gestellt, die nicht nur von vornherein offen fĂŒr seine Ăber-
legungen den Anderen Zustand betreffend sind [sic], sondern diese sogar
vorantreibt.â520 Zingel betont zu Recht âden geistigen EinfluĂ, den sie auf ih-
ren Bruder ausĂŒbtâ521, wobei dieser eben wiederum nicht diskursiv erfolgt,
sondern durch eine suggestiv erscheinende soziale Praxis.522 Von feministi-
scher Seite wurde hingegen ganz prinzipiell Kritik geĂŒbt, denn Musil bleibe
mit seiner Darstellung âinnerhalb einer patriarchalisch-binĂ€ren Denkweise
verfangenâ523. Der kritischen Deutung der Musilâschen Geschwisterdarstel-
519 Vgl. Zingel : Ulrich und Agathe, S. 63 : âDie Figur der Agathe ist auf einer qualitativ anderen
Ebene angesiedelt [als die anderen Frauenfiguren des Romans, N. C. W.], sie ist die Partnerin,
mit der Ulrich zusammen einen Ausweg aus der âWelt des Seinesgleichenâ sucht. In ihr erkennt
er sich wieder, sie hat wie er Sehnsucht nach einem anderen Leben und kennt einen âanderen
Zustandâ, der sie fasziniert und den sie wieder erreichen will.â Dementsprechend ist Agathe er-
zÀhltechnisch mit einer eigenstÀndigen Perspektive ausgestattet, welche auf die Darstellung des
geschwisterlichen VerhĂ€ltnisses zurĂŒckwirkt : âDie Geschwister bedeuten etwas fĂŒreinander â
ihr Zusammenleben ist ein Gemeinschaftsprojekt, ein neues Wir soll der âWelt des Seinesgleichenâ
entgegengesetzt werden. Statt der auf das Einzelwesen Ulrich konzentrierten psychologischen
Dimension kommt so eine gesellschaftliche Dimension und eine dritte GröĂe zwischen Ich
und Welt ins Spiel : das Wir, bestehend aus einem sich liebenden Geschwisterpaar.â (S. 64)
520 Ebd., S. 71.
521 Ebd.
522 Vgl. dagegen die biografistisch argumentierende Fundamentalkritik von Hehner : Erkenntnis
und Freiheit, S. 412, die sich allein auf diskursive Aussagen der Figuren konzentriert und in
folgendes Fazit mĂŒndet : âBei nĂ€herem Hinsehen bezĂŒglich der bezaubernden âGeschwister-
gesprĂ€cheâ stellt man aber fest, daĂ hier gar kein Dialog stattfindet [âŠ]. Ist Ulrich vernichtend
kritisch gegenĂŒber Falschheit, um auf dem freigewordenen Platz konstruktiv zu werden, so ist
Agathe steril destruktiv.â
523 Zwar betont Schwartz : Musils Frauenbild, S. 324, das utopische Experiment des âanderen Zu-
standsâ ziele auf die âErfahrung einer âweiblichenâ Verhaltens- und Wahrnehmungsweiseâ. In
ihrer Argumentation folgt sie aber der fragwĂŒrdigen â weil in keiner Weise philologisch plausi-
bilisierten â These einer Arbeit von Lisa Appignanesi, wonach Musils Konzeption der Agathe
âauf den Spuren Jungsâ wandle (ebd., S. 323). Agathe erfĂŒlle demnach âeine ErgĂ€nzungsfunk-
tion in Bezug auf ihren Bruder, als seine verdrÀngte oder eher vernachlÀssigte Anima, die er
zur (Wieder-)Erlangung einer gespaltenen androgynen Ganzheit brauchtâ. Als argumentativer
GewĂ€hrsmann dient hier C. G. Jung, der âsowohl beim Mann als auch bei der Frau vom ande-
ren Geschlecht, von Anima und Animus in der Psyche sprichtâ. Dennoch seien bei Jung Reste
âeiner traditionell mĂ€nnlichen Denkweiseâ am Werk, âdie wir auch bei Musil wiederfinden ; der
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208