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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 963
lung als konventionell mag man zustimmen oder nicht â es folgt daraus aber
keinesfalls, dass der Roman selbst eine solche âpatriarchalische BinaritĂ€tâ als
Idealbild zeichnet. Im Gegenteil : Dem Gestaltlosigkeitstheorem zufolge sind
auch Musils Romanfiguren geformt durch ihre soziale Umgebung, genauer :
durch die kakanische Vorkriegsgesellschaft, von deren ZwÀngen Ulrich und
Agathe sich mit aller Kraft, zuletzt aber vergeblich zu befreien versuchen.524
Insofern wÀre es geradezu widersinnig, wenn die beiden Geschwister im Un-
terschied zu allen anderen Romanfiguren in der Lage wÀren, die seinerzeit
dominanten Geschlechterstereotypien einfach durch eine kreative, norm-
sprengende Performanz ĂŒber Bord zu werfen, so als ob fĂŒr sie die soziale Be-
dingtheit menschlicher Gestaltbildung auĂer Kraft gesetzt wĂ€re. Eine solche
voraussetzungslose Sistierung ist innerhalb der ânegativenâ Anthropologie Mu-
sils schlichtweg undenkbar.
Durch seine umsichtige Darstellung zeigt Musil vielmehr, dass die herr-
schende Geschlechterordnung allen anderslautenden Programmatiken zum
Trotz âgegen die pseudorevolutionĂ€ren Umdefinitionen des subversiven Vo-
luntarismus resistent istâ, wie sie von den frĂŒhen gendertheoretischen Arbeiten
Judith Butlers reichlich idealistisch postuliert wurden, denn : Die âperforma-
tive Wirksamkeit der Worteâ grĂŒndet stets auf der gesellschaftlichen â und
keineswegs bloĂ der diskursiven â Geschlechterordnung, nicht umgekehrt.525
In seiner Figurenzeichnung und HandlungsfĂŒhrung nimmt Musil also ge-
wissermaĂen die von Bourdieu (und anderen) geĂ€uĂerte Kritik an Butlers
Thesen vorweg526, ohne aber deren utopisches Potenzial zu verkennen, das
Animus der Frau ist bei Jung daraufhin konzipiert, die KreativitÀt des Mannes anstatt diejenige
der Frau selber zu fördern, so daĂ sie letzten Endes in ihrer ErgĂ€nzungsrolle fixiert bleibtâ
(ebd.). Bereits Laermann und andere hĂ€tten gezeigt, dass âAgathe fĂŒr Ulrich diese ergĂ€nzende,
bis zum narziĂtischen Spiegelbild gehende Funktion zu erfĂŒllen hatâ (ebd.). Angesichts dieses
Befundes ist Schwartzâ Fazit Ă€uĂerst ambivalent : Musil wiederhole mit seinem âEntwurf des
Geschwisterpaarsâ Jungs âpatriarchalisch-binĂ€re Denkweiseâ, âwobei die mĂ€nnliche HĂ€lfte fĂŒr
Licht, RationalitĂ€t, AktivitĂ€t, die weibliche fĂŒr den Schatten, das Intuitiv-Empfindsam-Passive,
fĂŒr das âAndereâ des Mannes stehtâ (ebd., S. 324). Ăhnlich Johach : Die unerlösten Geschlechter
Kakaniens, S. 129 u. 136 f.
524 Vgl. auch Zingel : Ulrich und Agathe, S. 195 f.: âZweifellos entziehen sich die Geschwister der
Gesellschaft, indem sie das moralische Gebot des Inzestverbots ablehnen. Sie ignorieren die
gesellschaftskonstitutiven Tauschbeziehungen, was nicht heiĂt, daĂ sie auch tatsĂ€chlich Inzest
begehen mĂŒssen. Alleine in der Ablehnung des von der Moral vorgeschriebenen Verzichts auf
sexuelle Vereinigung liegt ein gesellschaftssprengendes Potential. [âŠ] [I]m Text wird der Inzest
explizit mit dem VerstoĂ gegen geltende Moral und Konvention gleichgesetzt und erfĂŒllt so
eine konstitutive Funktionâ.
525 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 178.
526 Vgl. ebd., Anm. 36 ; dagegen Butler : Performativityâs Social Magic, bes. S. 119â126.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208