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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 965
verzauberte Inselâ der Liebe entrissen werden, diese geschlossene und vollkommen
autarke Welt, in der sich Wunder an Wunder reiht : das Wunder der Gewaltlosig-
keit, das durch die Herstellung von Beziehungen ermöglicht wird, die auf völliger
ReziprozitĂ€t beruhen und Hingabe und SelbstĂŒberantwortung erlauben ; das der ge-
genseitigen Anerkennung, die es gestattet, sich, wie Sartre sagt, âin seinem Dasein
gerechtfertigtâ, gerade in seinen kontingentesten oder negativsten Besonderheiten
angenommen zu fĂŒhlen, in und durch eine Art willkĂŒrlicher Verabsolutierung des
WillkĂŒrlichen einer Begegnung [âŠ] ; das der UneigennĂŒtzigkeit, welche von Instru-
mentalisierung freie Beziehungen ermöglicht, die auf dem GlĂŒck basieren, GlĂŒck zu
schenken in dem EntzĂŒcken des anderen, besonders angesichts des EntzĂŒckens, das
es hervorruft, unerschöpfliche GrĂŒnde des EntzĂŒckens zu finden.530
Ein solches, der herrschenden sozialen RealitÀt entgegengesetztes Liebesex-
periment ist dann zum Scheitern verurteilt, wenn die Gesellschaft, in der es
stattfinden soll, seine Entfaltung nicht erlaubt. In seinem letzten Brief ĂŒber-
haupt vom 12. ( ?) April 1942 schreibt Musil seinem amerikanischen Förderer
Henry Hall Church ĂŒber die Arbeit am âSchluĂbandâ seines groĂen Romans,
dieser solle âaus einer Unzahl von Ideen, die uns beherrschen, weil wir keine
von ihnen beherrschen, die Geschichte einer ungewöhnlichen Leidenschaft
ableiten, deren schlieĂlicher Zusammenbruch mit dem der Kultur ĂŒbereinfĂ€llt,
der anno 1914 bescheiden begonnen hat und sich jetzt vollenden wirdâ (Br
1, 1418). Auch hier sollte Musil recht behalten, wenngleich die Diagnose des
Mann ohne Eigenschaften hĂ€ufig ganz anders â nĂ€mlich im Sinn einer affirmati-
ven âMythologisierungâ des Romangeschehens â verstanden worden ist. Selbst
das definitive Scheitern der Liebe, mit der sich die Geschwister aus der kaka-
nischen Gesellschaft katapultieren wollen, ist Teil der romanesken âGrundidee :
Krieg. Alle Linien mĂŒnden in den Krieg.â (MoE 1851 ; vgl. MoE 1902)
Die bisherigen Ăberlegungen zur Liebe im âanderen Zustandâ haben sich
vor allem auf die fertiggestellten Teile des Mann ohne Eigenschaften bezogen.
Nun stellt sich die Frage, ob sich die Sachlage anders darstellt, wenn man die
nachgelassenen fragmentarischen EntwĂŒrfe zum Zweiten Buch berĂŒcksich-
tigt. Dieses verfolgt ja erklĂ€rtermaĂen den Anspruch, tatsĂ€chlich âdie letzte
Liebesgeschichteâ zu schreiben, âdie es geben kannâ (MoE 1094), wie Aga-
the mit einigem Pathos im nachgelassenen Druckfahnenkapitel âMondstrah-
len bei Tageâ formuliert. Entsprechendes hat Musil selbst in einem Brief an
Franz Blei vom 9. Juli 1934 festgehalten : âDa ich ja sozusagen die letzte Lie-
besgeschichte schreibe, mit der dieser interessante Gegenstand untergehen
530 Bourdieu : Die mÀnnliche Herrschaft, S. 189 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208