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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
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„Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ 969 schwister, ihr leibhafter Versuch einer gegenseitigen Durchdringung539, wie- derholt „in Kot und Erbrechen“ geendet hat (MoE 1672). Konsequent ent- behrt Anders’ Haltung jeglicher illusorischen Tendenz : „Es ist ja alles vorbei.“ (MoE 1673) Nun handelt es sich beim Text der EntwĂŒrfe zum Kapitel „Die Reise ins Paradies“ ĂŒberdies keineswegs um Fragmente aus einer spĂ€ten, nicht mehr zu Ende gefĂŒhrten Arbeitsphase am Roman, sondern im Gegenteil um des- sen frĂŒheste im fortgeschrittenen Entwurfsstadium erhaltene ErzĂ€hlsubstanz aus der Mitte der zwanziger Jahre, die mindestens drei Jahre Ă€lter ist als die 1929 begonnene Niederschrift des Ersten Buchs und – neben anderem Ma- terial, auf das sich die ‚mythisierenden‘ Interpreten gern beziehen540 – in der vorliegenden Form vom Autor selbst wieder verworfen bzw. zumindest zur Überarbeitung vorgesehen wurde. Der Darstellung Riedels zufolge lĂ€sst Mu- sils Roman jedoch auch in seiner autorisierten Gestalt „keinen Zweifel daran, daß die Wiedergewinnung dieses Paradieses ohne Regression nicht zu haben ist“541. Diese zumindest hinsichtlich der Regression wohl eher auf Gottfried Benn als auf Musil zutreffende Affirmation erstaunt insofern, als das Paradies eben weder in den ‚apokryphen‘ noch auch in den vollendeten Kapiteln des 539 Folgt man den Vorgaben der Balzac-LektĂŒre von Shoshana Felman, dann wĂ€re der Inzest der Geschwister „die implizierte logische Konsequenz der narzißtischen Struktur ihres wechsel- seitigen Begehrens“ ; so Felman : Weiblichkeit wiederlesen, S. 49, zu den Geschwistern Henri und EuphĂ©mie aus Balzacs Roman La fille aux yeux d’or, die in Unkenntnis voneinander beide die Sklavin Paquita begehren und sich jeweils in ihr spiegeln. Auch bei Musil entspricht der zunĂ€chst geplante Inzest vorderhand einer gewissen textstrukturellen Logik, die dem And- rogyniediskurs innewohnt. Allerdings ist dabei zu bedenken, dass das gegenseitige Begeh- ren der Geschwister im kanonischen Zweiten Buch des Mann ohne Eigenschaften nur recht partiell als narzisstisch bezeichnet werden kann. Felmans feministische Dekonstruktion des „dynamische[n] Spiel[s] der SexualitĂ€t als Differenz“ fĂŒhrt zu folgendem Ergebnis : „MĂ€nn- lichkeit ist keine Substanz, und Weiblichkeit ist auch nicht deren leeres Komplement [
]. Weiblichkeit ist weder Metonymie, ein behaglicher BehĂ€lter von MĂ€nnlichkeit, noch ist sie eine Metapher – dessen spiegelbildliche Reflexion. Weiblichkeit wohnt der MĂ€nnlichkeit inne, wohnt ihr inne als Andersheit, als ihre eigene Unterbrechung. Weiblichkeit ist mit anderen Wor- ten eine reine Differenz, ein Signifikant – und das ist MĂ€nnlichkeit auch ; als Signifikanten sind MĂ€nnlichkeit und Weiblichkeit beide ĂŒber die Weise definiert, in der sie sich differentiell auf andere Differenzen beziehen.“ (S. 58) Die dekonstruktive LektĂŒre gelangt auf diese Weise zu einem wenig ĂŒberraschenden Fazit, das in seinen geschlechtspolitischen Implikationen den historischen Aussagen des Androgyniediskurses gleicht. 540 Frank : Auf der Suche nach einem Grund, beruft sich bevorzugt nicht auf ausformulierte Ent- wĂŒrfe Musils, sondern auf fragmentarisches Material aus den frĂŒhesten Entstehungsschichten, so auf Notizen zu dem bereits 1922 fallen gelassenen Spion-Projekt (MoE 1944–2015) oder auf Ă€ltere StudienblĂ€tter mit kompositorischen Notizen (MoE 1813–1943). 541 Riedel : Der Mann ohne Eigenschaften, S. 278.
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Kakanien als Gesellschaftskonstruktion Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
FWF-E-Book-Library
Titel
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Untertitel
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Autor
Norbert Christian Wolf
Verlag
Böhlau Verlag
Ort
Wien
Datum
2011
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
ISBN
978-3-205-78740-2
Abmessungen
15.5 x 23.0 cm
Seiten
1224
Schlagwörter
Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
Kategorie
Geisteswissenschaften

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorbemerkung 9
  2. Einleitung 11
    1. 1. Vom Scheitern eines Großkritikers : Aporien der Literaturkritik 11
    2. 2. Die MĂŒhen der Literaturwissenschaft : Aporien der Forschung 20
  3. TEIL I : GRUNDLEGUNG
    1. 1. Grundlagen der Untersuchung 43
      1. 1.1 Vorstellung der Methode : Bourdieus Sozioanalyse literarischer Texte 43
      2. 1.2 Methodologische EinwÀnde : Kritik der Sozioanalyse 58
    2. 2. Grundlagen der Poetik Musils 64
      1. 2.1 Der Mensch ohne Eigenschaften : ‚Gestaltlosigkeit‘ als ‚negative‘ Anthropologie 64
      2. 2.2 ‚Gestaltlosigkeit‘ und Romantext als Gesellschaftskonstruktion 80
    3. Gesellschaft im Roman 82
    4. Roman als Konstruktion 101
    5. Da capo : Angemessenheit und Vorgehensweise der Sozioanalyse 124
      1. 2.3 Medienkonkurrenz : Essayistisches vs. filmisches ErzÀhlen (Musil kontra Balåzs) 129
    6. 3. Grundbegriffe des Romankonzepts 165
      1. 3.1 Eigenschaftslosigkeit 165
      2. 3.2 Möglichkeitssinn und Essayismus 199
  4. TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
    1. 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
      1. 1.1 SelbstreferenzialitĂ€t und Außenreferenz : Das Eingangskapitel 261
      2. 1.2 Ein Land ohne Eigenschaften – Kakanien als Modell 282
      3. 1.3 Das Feld der Macht im Mann ohne Eigenschaften 300
    2. 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
      1. 2.1 MĂ€nner 334
    3. Erben und Enterbte 344
    4. Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
    5. Mann mit Eigenschaften 378
    6. Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
    7. Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
    8. Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
    9. Aufsteiger und Gebremste 482
    10. Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
    11. Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
    12. Terroristen und Propheten 548
    13. Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
    14. eingast, Faschist und Schwerenöter 584
    15. Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
    16. Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
      1. 2.2 Frauen 635
    17. Gefallene Geliebte 643
    18. Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
    19. Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
    20. Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
    21. Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
    22. Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
    23. Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
    24. Angepasste und Dissidentinnen 708
    25. Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
    26. Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
    27. 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
      1. 3.1 Gemischtgeschlechtliche Konstellationen : MĂ€nner und Frauen im 20. Jahrhundert 771
    28. Ehen in der Krise 781
    29. Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die „TrĂ€ger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
    30. Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
    31. Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
    32. Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
    33. Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
    34. Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
    35. Liebesversuche jenseits der Ehe 885
    36. Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
    37. Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
    38. Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
    39. Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
    40. 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
    41. Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
    42. Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
    43. Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
    44. Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
    45. Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
    46. BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
  5. BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
  6. TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
    1. 1. Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1099
      1. 1.1 ‚Negative‘ Anthropologie als literaturpolitischer Einsatz 1101
      2. 1.2 Poetik des Essayismus – Musils vielfacher Bruch 1130
    2. 2. Autor und Romanheld in der Moderne – Musils indirekte Selbstanalyse 1152
  7. Literaturverzeichnis 1169
  8. Musil-Texte 1169
  9. Andere Quellen 1169
  10. Nachschlagewerke 1176
  11. Allgemeine Forschungsliteratur 1176
  12. SekundÀrliteratur zu Musil 1193
  13. Register 1208
    1. 1. Personen 1208
    2. 2. Literarische Figuren 1214
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