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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld970
Romans wirklich dauerhaft âwiedergewonnenâ wird.542 Im Gegenteil : Ange-
sichts der aus den autorisierten Teilen beziehbaren Informationen muss sogar
erheblicher Zweifel daran bestehen, ob eine solche âWiedergewinnungâ in
Musils Konzeption ĂŒberhaupt jemals selbst âzu habenâ gewesen sein sollte.543
In diese Richtung deutet jedenfalls die zentrale Erkenntnis Ulrichs aus dem
âkanonischenâ Kapitel âDie Siamesischen Zwillingeâ : seine genuin âmoderneâ
und deutlich resignative Einsicht, âdaĂ ein âMitten-inne-Seinâ, ein Zustand der
unzerstörten Innigkeit des Lebens â wenn man das Wort nicht sentimental
versteht [âŠ] â wahrscheinlich mit vernĂŒnftigen Sinnen nicht zu fordern istâ.
Dies sei zwar âvielleicht eine Menschenwidrigkeitâ, doch könne man nicht
daran vorbeisehen, dass alle Menschen eine solche âunzerstörte Innigkeit des
Lebensâ â abgesehen von ephemeren âerfĂŒllten Augenblickenâ â âschmerzlich
entbehrenâ (MoE 908).544 Die romaninterne Diskussion des quasimystischen
âanderen Zustandsâ befindet sich stets in der anhaltenden Spannung zwischen
dem eminent menschlichen BedĂŒrfnis nach einem âMitten-inne-Seinâ und der
â im Lichte der âmodernenâ Vernunft besehen â schieren Unmöglichkeit ei-
ner mehr als momenthaften Realisierung ebendieses BedĂŒrfnisses. Um diesen
Sachverhalt ideen- und diskurshistorisch zu situieren, bedarf es eines Exkurses
zur Funktion von âMythosâ und âMystikâ bei Musil.
Die im atavistischen Sinne âmythisierendenâ oder gar âtheologisierendenâ545
Interpreten haben sich zu ihrer BeweisfĂŒhrung gern auf frĂŒhe Notizen Musils
542 Vgl. auch Martens : âDas Ganze ist das (Un)Wahreâ, S. 135 : Wenn man den âanderen Zustandâ
als Sehnsucht nach einer festen âĂberzeugungâ, etwas âBestĂ€ndigemâ (MoE 1856 f. u. 1864)
auslege, dann bĂŒrde âman dem Roman [âŠ] mit Unrecht eine reaktionĂ€re Gesinnung auf, denn
Ulrich will bewuĂt ohne [âŠ] festen Punkt auskommenâ.
543 Dass Musil selbst im frĂŒheren Stadium seiner Arbeit am Roman keine plane Affirmation des
Mythos, keinen positiv konnotierten mythischen âUmschlagâ intendiert hat, kann auch an ei-
nem (bereits in anderem Kontext zitierten) Passus aus dem GesprÀch mit Fontana von 1926
abgelesen werden, in dem er festhĂ€lt : âDer junge Mensch [Anders/Ulrich, N. C. W.] kommt
darauf, daĂ [âŠ] er seine Wesentlichkeit erschauen, aber nicht erreichen kann.â (GW 7, 941)
Entsprechendes ist an weiteren Zeugnissen aus den unterschiedlichsten Phasen zu beobach-
ten.
544 Genau auf die Formulierung aus obigem Zitat, welche die Möglichkeit eines âMitten-inne-
Seinsâ in der modernen Welt ganz prinzipiell in Frage stellt, stĂŒtzt sich hingegen Riedel : Der
Mann ohne Eigenschaften, S. 276, zur Veranschaulichung seiner These, Ulrichs Erleben werde
im zweiten Teil des Romans âzentriert, konzentriertâ und erhalte âgerade durch diesen zentri-
petalen Zug den Charakter des Erlebens von Einheitâ.
545 So Goebel : Konstellation und Existenz, S. 192 f., der in seiner Kritik an Frank dessen âunbe-
stimmte Theologisierung des âanderen Zustandsââ geiĂelt, die dem Roman âdas verwaschene
Antlitz des âkommenden Gottesââ aufprĂ€ge ; vgl. auch die AusfĂŒhrungen ebd., S. 205 f.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208