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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld972
hand seiner ca. zwanzig Jahre spÀter stattfindenden Auseinandersetzung mit
LĂ©vy-Bruhls These vom (angeblich in âprimitivenâ Kulturen beheimateten)
âprĂ€logischenâ, âmythischenâ Denken zeigen lĂ€sst, die ebenfalls als Beleg fĂŒr
Musils âRemythisierungstendenzâ angefĂŒhrt wurde.548 Zwar zeigt er sich im
Essay AnsĂ€tze zu neuer Ăsthetik fasziniert von LĂ©vy-Bruhls Gesetz der âParti-
zipationâ, âjenes besonderen VerhĂ€ltnisses zu den Dingenâ (GW 8, 1141), das
â wie bereits skizziert549 â als âmystischesâ Unterlaufen des logischen IdentitĂ€t-
qua-Differenz-Denkens zusammengefasst werden kann. Doch verwendet er
die LĂ©vy-Bruhlâsche Konzeption der âPrĂ€logizitĂ€tâ weniger zur diachronen
Abgrenzung zweier kulturhistorisch distinkter âDenkformenâ im Sinne einer
Aufwertung des Mythischen (wie etwa Gottfried Benn dies tut) als vielmehr
zur synchronen Beschreibung der Funktionsweise von Kunst innerhalb der
modernen Welt (vgl. GW 8, 1141 f.). Musil ist es keineswegs um die âgeheime
Sehnsucht nach der Wiederkehr einer mythischen Zeitâ550 oder gar um einen
âbewuĂten Atavismusâ551 zu tun, wie man ihm verschiedentlich unterstellt hat.
Er interessiert sich im Gegenteil gerade fĂŒr die möglichst genaue Erfassung
unterschiedlicher Denkformen und ZustÀnde bzw. intellektueller Disposi-
tionen â insbesondere der Ă€sthetischen und der wissenschaftlich-ökonomi-
schen â, die im Rahmen moderner Gesellschaften nicht selten als Basis anta-
gonistischer Praxeologien begegnen â ein Thema, das auch Gaston Bachelard
zur selben Zeit beschÀftigt.552 Um etwa die spezifische Funktionsweise von
548 Vgl. Riedel : Der Mann ohne Eigenschaften, S. 279 ; mehr dazu in Heydebrand : Die Reflexio-
nen Ulrichs, S. 106â111.
549 Vgl. Kap. I.2.3 sowie die AusfĂŒhrungen zu Agathe in Kap. II.2.2.
550 So MĂŒller : Ideologiekritik und Metasprache, S. 51.
551 Ebd., S. 49.
552 Dazu Zingel : Ulrich und Agathe, S. 71 : âDas âwilde Denkenâ ist also keinesfalls als rĂŒckstĂ€n-
dig zu charakterisieren, sondern als anders.â Wie die Diktion (âwildes Denkenâ) signalisiert, ent-
spricht diese Deutung freilich weniger den durchaus zivilisationshistorisch differenzierenden
AusfĂŒhrungen LĂ©vy-Bruhls als vielmehr der Argumentation von LĂ©vi-Strauss, der seinerseits
auf Bachelards Widerlegung einer distinkten âmythischen Denkformâ der âprimitivenâ Kulturen
rekurriert ; vgl. dazu die instruktive Darstellung von Chimisso : Der Geist und die FakultÀten,
S. 247 f., wonach Bachelard wenige Jahre spĂ€ter als Musil zeigte, âdaĂ die primitive MentalitĂ€t
im modernen Menschen nicht ausgelöschtâ ist, sondern âirgendwie mit dem Rationalenâ ko-
existiert, âwenn auch in anderen Formen. [âŠ] So vermag die PrimitivitĂ€t im modernen Geist zu
ĂŒberleben, und Dichtung ist die privilegierte Möglichkeit, wenigstens zeitweise primitiv zu sein.
[âŠ] FĂŒr Bachelard war das poetische Denken nicht logisch, sondern Ausdruck von LĂ©vy-Bruhls
âprimitiver MentalitĂ€tâ. Das Prinzip vom Widerspruch hat in der Dichtung keine GĂŒltigkeit, weil
es auch im UnbewuĂten nicht giltâ. Mit anderen Worten : âPrimitivitĂ€t ist keine Sache der Ver-
gangenheitâ, sondern ĂŒberlebt gerade âin Dichtung und individuelle[r] TrĂ€umereiâ. Bezeichnen-
derweise beruft sich auch Bachelard â wie Musil â dabei auf Novalis und die Romantik.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208