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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld974
benselement, sowohl direkt als in den verschiedensten Sublimierungen. Erotische
EnergiebetrÀge verwandeln sich oft direkt in wertvolle Kunstleistungen, wie etwa die
gesteigerte GefĂŒhlskraft von Gottfried Kellers poetischen Frauengestalten mit der
VerkĂŒmmerung seines Ă€uĂeren LebensglĂŒcks in einem deutlichen dynamischen Ver-
hÀltnis steht.555
Auch hier wird wiederum deutlich : Musils bewusste Anleihe am Ausdrucksre-
servoir mythischen und mystischen Sprechens hat eine eindeutig Àsthetische
â genauer : eine darstellerische â Funktion556 und ist ein Instrument seines ho-
hen literarisch-kĂŒnstlerischen Erkenntnisanspruchs, mit dem er der modernen
Wissenschaft und ihrer Sprache etwas EbenbĂŒrtiges an die Seite stellen will.557
Sein dabei nach wie vor waches kritisches Bewusstsein manifestiert sich wie
auch seine These der Gleichzeitigkeit zweier distinkter âDenkformenâ in der
Moderne in einer wenig spĂ€ter ĂŒber ein weiteres LĂ©vy-Bruhl-Exzerpt notier-
ten ironischen Bemerkung : âEin Wunderarzt mit Partizipation hĂ€tte auch
heute Erfolg.â (Tb 1, 628)
Die skizzierte Funktion Musilâscher Mythos- und Mystikadaption bei gleich-
zeitiger vehementer Abgrenzung gegenĂŒber den trivialisierten zeitgenössischen
Anverwandlungen der einschlÀgigen Traditionen lÀsst sich im kanonischen Ro-
mantext des Mann ohne Eigenschaften allenthalben bestÀtigen. Einerseits widmet
sich der ErzĂ€hler immer wieder der beiĂenden Ideologiekritik modischer pseu-
domystischer Anwandlungen, etwa wenn er im âkanonischenâ Kapitel âLeiden
einer verheirateten Seeleâ vermutet,
daĂ einstmals etwas UrsprĂŒngliches in Diotima gewesen war [âŠ], was sie jetzt Seele
nannte und in der gebatikten Metaphysik Maeterlincks[558] wiederfand, in Novalis,
vor allem aber in der namenlosen Welle von DĂŒnnromantik und Gottessehnsucht,
555 Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 141.
556 Mehr dazu in der Darstellung von RuĂegger : Kinema mundi, S. 129â138, bes. S. 134 ff.
557 Insofern ist der Befund mit Bezug auf den spÀten Foucault von Balke : Auf der Suche nach dem
âanderen Zustandâ, S. 310, zu differenzieren, wonach âMusils Problematisierung des anderen
Zustandes [âŠ] hartnĂ€ckig seine ZugĂ€nglichkeit fĂŒr das Wissen in Frage stelltâ. Abgelehnt wird
vielmehr nur ein bestimmter, normalisierter Typ des Wissens.
558 Zu Maeterlinck, den der junge Musil sehr geschĂ€tzt hatte, heiĂt es in âDie vergessene, ĂŒberaus
wichtige Geschichte mit der Gattin eines Majorsâ, Ulrich habe ihn âfĂŒr einen Salonphiloso-
phen halten gelerntâ, dessen SĂ€tze âso schlecht wie Brot [schmecken], auf das ParfĂŒm ausge-
gossen wurdeâ (MoE 122). Vgl. auch den Spengler-Essay Geist und Erfahrung. Anmerkungen
fĂŒr Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind (1921) : âWenn man Emerson,
Maeterlinck oder Novalis liest, [âŠ] erfĂ€hrt man stĂ€rkste geistige Bewegung : aber erkennen
kann man das nicht heiĂen. Es fehlt die Konvergenz zur Eindeutigkeit.â (GW 8, 1049)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208