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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 983
Freilich hat hier das Wort âEigenschaftâ â im Unterschied zu heute â in erster
Linie eine materielle Bedeutung, was aber bereits damals die geistige Dimension
des âzu Eigenenâ nicht ausschloss : âDie mystische Forderung nach Eigenschafts-
losigkeit verlangt das Freisein von Bindung an die Welt und alles Weltliche, und
eben darin liegt fĂŒr den Mann ohne Eigenschaften die systematische Voraus-
setzung fĂŒr das Denken des Möglichen.â586 In diesem ideengeschichtlichen Zu-
sammenhang ist aber unbedingt darauf hinzuweisen, dass sich Musils Mystik-
verstÀndnis trotz mancher AnklÀnge oder begrifflicher Anleihen aus der einen
oder anderen Richtung587 keinesfalls im kirchlich-religiösen Sinn vereinnahmen
lĂ€sst und auch nicht einfach der âNeuen Mythologieâ im Sinne der Romantik ent-
spricht, wie oben bereits ausgefĂŒhrt worden ist ; âein göttlicher Schöpfer bildet
nicht den Fluchtpunktâ der âliterarischen Denkanstrengungâ Musils, vielmehr
zeigt sich, âdaĂ dieses Denken, das [âŠ] in seiner experimentellen Ausrichtung
spÀtere neurobiologische, informations- und systemtheoretische Entwicklungen
vorwegnimmt[588], die Gesetztheit aller Begriffs- und Kategorienbildung sowie
der Formen des sozialen Miteinanders reflektiert und im Versuch ihrer Ăber-
schreitung eine ErfahrungsqualitÀt sucht, die strukturelle Analogien zu jener in
mystischen Texten beschriebenen transpersonalen Erfahrung aufweistâ589 â nicht
mehr, aber auch nicht weniger. Nach der pointierten Formulierung von Hans-
Georg Pott ist Musils Utopie des âanderen Zustandsâ âeine Sache der Modallo-
gikâ und keineswegs âder von Nicht-Ortenâ religiöser Art, âgeschaffen von einer
wildausschweifenden oder messianischen Wunschphantasieâ.590 Dieser nicht zu
vernachlĂ€ssigende Sachverhalt bildet den maĂgeblichen gedanklichen Hinter-
grund der gegenseitigen Bedingtheit von Möglichkeitsdenken und âEigenschafts-
losigkeitâ in Musils Roman, wobei Ulrichs Eigenschaftslosigkeit in erster Linie als
âeine positive QualitĂ€tâ zu verstehen ist.591
Wie bereits angekĂŒndigt, soll im Folgenden ein forschungsgeleiteter Lek-
tĂŒredurchgang durch die letzte Fassung des nachgelassenen Romankapitels
âAtemzĂŒge eines Sommertagsâ, an der Musil bis in die Stunde seines unerwar-
teten und plötzlichen Todes gefeilt hat, die gegenwĂ€rtigen Ăberlegungen zum
Thema Liebe und Mystik abschlieĂen. In diesem höchst ambitionierten und
586 Wagner-Egelhaaf : Musil und die Mystik der Moderne, S. 203.
587 Vgl. die ganz unterschiedlich ausgerichteten Arbeiten von Fuld : Die Quellen zur Konzeption
des anderen Zustands, und Spreitzer : Meister Musil.
588 Vgl. Pott : Musil und das 20. Jahrhundert, S. 66.
589 Wagner-Egelhaaf : Musil und die Mystik der Moderne, S. 203 f.
590 Pott : Musil und das 20. Jahrhundert, S. 68 ; vgl. Wagner-Egelhaaf : Musil und die Mystik der
Moderne, S. 204.
591 Ebd., S. 203.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208