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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld986
verweist, sondern an- und mitklingen lĂ€Ătâ595. Der in weiten Romanteilen vor-
herrschende, kritisch kommentierende ironische ErzĂ€hler tritt gegenĂŒber der
personalen bzw. intern fokalisierten Perspektive Agathes merklich in den Hin-
tergrund. In einer genauen Stilanalyse hat Wagner-Egelhaaf gezeigt, wie Musil
es hier mithilfe zahlreicher charakterisierender Adjektive schafft, âdie Wortbe-
deutung des zugehörigen Substantivs einerseits [zu] differenzieren, anderer-
seits [zu] irritieren und ĂŒber sich hinaus[zu]treibenâ596, womit er letztlich âdie
Begrenztheit der Deut- und Aussagekraft des einzelnen Wortes zu sprengen
und zu erweiternâ sucht.597 DarĂŒber hinaus bedient er sich âgleichfalls in be-
merkenswerter HĂ€ufigkeitâ der âverneinenden Sprachformen der mystischen
via negativaâ (âgerĂ€uschlosâ, âglanzlosâ, âfassungslosâ, âabgeblĂŒhtâ, âkein Blattâ, âkein
Schattenâ), wodurch er den Eindruck einer charakteristischen Unbestimmtheit
â gleichsam eines momentanen Schwebezustands â nahelegt, zumal der âab-
sprechende Gestus [âŠ] in einem paradoxen Widerspruch zur gleichzeitig ver-
mittelten Ăppigkeitâ steht : So sind BĂ€ume und StrĂ€ucher âverschwenderischâ
vom jungen Sommer belaubt, von âfröhlicher Trachtâ ist die Rede, und die
Vorstellung des BlĂŒtenschnees im Sonnenschein steht ebenfalls fĂŒr die Kre-
ativitĂ€t der Natur. Es ist gerade die Paradoxie âdes Sowohl-als-auch wie des
Dazwischenâ, die an die ĂŒberlieferten Sprechweisen der Mystiker gemahnt :
Der Ausdruck âBlĂŒtenschneeâ bildet an sich eine contradictio, insofern als er Bilder
des Sommerlichen und des Winterlichen kontaminiert. Die ganze Szene wird als
âBegrĂ€bniszug und Naturfestâ beschrieben, und : FrĂŒhling und Herbst, Sprache und
Schweigen der Natur, auch Lebens- und Todeszauber âmischten sich in dem Bildâ.
Nicht nur ist die Vorstellung kosmologischer TotalitÀt aufgerufen, wie hÀufig in der
Sprache der Mystiker werden auch Leben und Tod als anthropologische Erfahrungs-
qualitÀten ineinandergeblendet. Setzung und Verneinung, Position und Negation ge-
schehen in ein- und demselben Augenblick, um gleichsam die Nichtmitteilbarkeit
einer Erfahrung mitzuteilen.598
Diese sprachliche âEvokation des Nichtmitteilbarenâ liegt etwa dem âVer-
gleich des sich verdunkelnden RasengrĂŒns mit einem Augeâ zugrunde, der
âdie visionĂ€re QualitĂ€t des Beschriebenenâ unterstreicht.599 Musil operiert hier
595 Ebd.
596 Ebd., S. 208.
597 Quint : Mystik und Sprache, S. 75.
598 Wagner-Egelhaaf : Musil und die Mystik der Moderne, S. 209.
599 Ebd.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208