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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 987
mit dem figurativen Potenzial der deiktischen bzw. performativen Funktion
von Sprache600 und stellt somit implizit eine Analogie zwischen Kunst und
Mystik in den Raum, auf die noch zurĂŒckzukommen sein wird.
Die Tatsache, daĂ das sich verdunkelnde RasengrĂŒn paradoxerweise mit einem Auge
verglichen wird, obwohl es sich dabei doch selbst um ein Wahrgenommenes handelt
â wahrgenommen durch die Geschwister, den ErzĂ€hler, den Leser bzw. die Lese-
rin â, verweist einmal mehr auf die AuĂerkraftsetzung vertrauter, sich auf eindeutige
Subjekt- und Objektpositionen grĂŒndende Wahrnehmungs- und ErkenntnisverhĂ€lt-
nisse : Das Wahrgenommene wird selbst zum Subjekt der Wahrnehmung, die Wahr-
nehmenden erweisen sich als Objekte der Wahrnehmung. Wahrnehmung wird zu
einem transpersonalen mystischen Akt der unio, in dem Subjekt und Objekt aufge-
hoben sind.601
Zuletzt wird in der zitierten Passage der angespielte MystikprÀtext durch Aga-
thes Erinnerung an ein Mystikerzitat sogar explizit benannt : ââDa ward mir
das Herz aus der Brust genommenâ, hat ein Mystiker gesagt : Agathe erin-
nerte sich dessen.â (MoE 1232) Indem sie hier in abgewandelter Form eine
Formulierung Margaretha Ebners zitiert, die Martin Buber in die Ekstatischen
Konfessionen aufgenommen hatte602, stellt sie zum einen die eminent sprachli-
che Vermitteltheit des mystischen Erlebens aus, womit Musil wiederum eine
Verbindung zur Kunstthematik andeutet ; zum anderen vollzieht sie durch den
Verweis auf die ĂŒberkommene topische Formel indes letztlich bereits das âvon
den Mystikern und Mystikerinnen immer wieder beklagte Herausfallen aus
der unio mysticaâ603, weil die Verwendung eines passenden Zitats ihre Distanz
zum damit bezeichneten Zustand voraussetzt.
Auch in der Folge begegnet wiederholt die schon beschriebene oxymorale
Struktur : So wirkt der Garten im âAugenblick des BlĂŒtenzugsâ âgeheimnisvoll
verlassen und belebtâ. Dieses Bild leitet die fĂŒr eine mystische Augenblicksem-
phase zentrale Textpassage ein :
Die Zeit stand still, ein Jahrtausend wog so leicht wie ein Ăffnen und SchlieĂen des
Auges, sie war ans TausendjĂ€hrige Reich gelangt, Gott gar gab sich vielleicht zu fĂŒhlen.
Und wÀhrend sie, obwohl es doch die Zeit nicht mehr geben sollte, eins nach dem
600 Vgl. ebd.
601 Ebd., S. 209 f.
602 Buber : Ekstatische Konfessionen, S. 96 ; vgl. Arntzen : Musil-Kommentar, S. 175.
603 Wagner-Egelhaaf : Musil und die Mystik der Moderne, S. 210.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208