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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 993
schen Seitenzweig zu Kretschmers Unterscheidung zwischen sthenischem und
asthenischem Erleben609 bezeichnen könnte :
Ich werde also die beiden Arten des leidenschaftlichen Seins einfach nach einem be-
kannten Beispiel die appetithafte und eben dann auch, als deren Gegenteil, die nicht-
appetithafte nennen, mag es sich unschön anhören, oder nicht. Denn in jedem Men-
schen ist ein Hunger und verhĂ€lt sich wie ein reiĂendes Tier ; und ist kein Hunger,
sondern etwas, das frei von Gier und Sattheit, zÀrtlich wie eine Traube in der Herbst-
sonne reift. Ja, sogar in jedem seiner GefĂŒhle ist das eine wie das andere. (MoE 1236)
Das geschwisterliche GesprĂ€ch â âhervorgegangen aus einem Naturtraum,
dem Anblick des BlĂŒtenzugs, der noch immer eigentĂŒmlich ereignislos mitten
durch das GemĂŒt zu schweben schienâ â steht zwar âvom ersten bis zum letz-
ten unter dem EinfluĂ jenes Sinnbildsâ (MoE 1237) ; dennoch nimmt es eine
unvorhergesehene Wendung, was bezeichnend ist. Ulrich spricht nÀmlich in
der Folge dann ânur von dem, was er unter der appetitiven [Seite eines Ge-
fĂŒhls, N. C. W.] verstandâ, und skizziert mĂŒndlich eine eigene GefĂŒhlstheorie,
die den zentralen Gedankengang dessen aufnimmt und weiterfĂŒhrt, was er in
Form einer Abhandlung in den von Musil wieder verworfenen Druckfahnen-
kapiteln entwickelt hatte.610 Im gegenwĂ€rtigen Kontext wĂŒrde es allerdings zu
weit fĂŒhren, darauf nĂ€her einzugehen, weshalb hier gleich das Fazit von Ul-
richs Reflexionen rekapituliert sei, das noch einmal einen zentralen Gedanken
des ganzen Romans aufgreift ; es handelt sich um die letzten Zeilen, die Musil
vor seinem plötzlichen Tod verfasst hat :
NatĂŒrlich war ihm klar, daĂ die beiden Arten des Menschseins, die dabei auf dem
Spiel standen, nichts anderes bedeuten konnten als einen Mann âohne Eigenschaf-
tenâ, im Gegensatz zu dem mit allen Eigenschaften, die ein Mensch zu zeigen ver-
609 Vgl. Kretschmer : Medizinische Psychologie, S. 204 f.: âDa alles Erleben sich zwischen den
Polen Ich und AuĂenwelt vollzieht, so bekommt dadurch auch der unmittelbare subjektive Tat-
bestand unseres Erlebens eine bipolare Anordnung. Unser psychisches VerhĂ€ltnis zur AuĂen-
welt ist ein KrĂ€ftespiel, in dem wir abwechselnd bald das GefĂŒhl der Ăberlegenheit, der freudi-
gen Kraft, des Beherrschens und Handelns, bald das GefĂŒhl der Unterlegenheit, des mutlosen
Erleidens, der Niedergeschlagenheit und BeschÀmung empfinden. Jenes nennen wir sthenisches,
dieses asthenisches Erleben. Je nach Temperament, Milieu und Erziehung ist nun die komplexe
Lebenseinstellung des einzelnen mehr dem sthenischen oder mehr dem asthenischen Pol zu-
gewandt, so daà wir nach dem durchschnittlichen Typus ihrer Persönlichkeitsreaktionen mehr
sthenische oder mehr asthenische Charaktere unterscheiden.â
610 Vgl. Mulligan : Musils Analyse des GefĂŒhls, S. 95 ; dort auch philosophiegeschichtliche Kontex-
tualisierungen.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208