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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1008
abgetan werden kann ; der bevorzugte AufhÀnger der Ablehnung ist und bleibt
Arnheims PreuĂentum : So weiĂ etwa Diotima, âdaĂ beinahe alle Personen ih-
rer Umgebung eine leichte Abneigung gegen Deutschland, gemischt mit einer
gewissen lĂ€stigen Bruderverpflichtung, hattenâ (MoE 329). Das durch ein sozi-
ales Unbehagen am unerhörten Reichtum Arnheims noch gesteigerte Ressen-
timent der Ăsterreicher gegen den PreuĂen wird allerorts spĂŒrbar : Wie Tuzzi
oder Ulrich651 empfindet auch Leinsdorf eine tiefe âAbneigung gegen Arnheimâ
(MoE 598). Die grundsĂ€tzlich antipreuĂische Haltung, die dem kakanischen
SelbstverstĂ€ndnis zugrunde liegt, kommt nicht zuletzt im âursprĂŒngliche[n]
Sinn der Parallelaktionâ zum Ausdruck, der ganz unverhĂŒllt lautet : âBesser als
PreuĂenâ (MoE 180). Diotimas Salon, in dem diese Dinge verhandelt werden,
steht damit in der historisch verbĂŒrgten österreichisch-patriotischen und anti-
preuĂischen Tradition der maĂgeblichen Wiener Salons um und nach 1900.652
Ironischerweise ist es im Roman aber gerade der PreuĂe Arnheim, der gestei-
gerten âWert auf den Salonâ und die darin gefĂŒhrten GesprĂ€che legt (MoE 195),
nicht Diotimas streckenweise allzu pragmatisch denkender Gatte Hans Tuzzi,
der trotz aller Bedenken einrĂ€umt, âdaĂ es Vorteile bieten möge, sich mit einem
Mann in so eigenartiger Stellung zu befreundenâ, und Diotima nicht ohne Hin-
tergedanken653 versichert, âdaĂ sie seine Bedenken miĂdeuten wĂŒrde, wenn sie
aus ihnen schlieĂen wollte, daĂ es ihm nicht angenehm sei, Arnheim so oft wie
möglich in ihrer Gesellschaft zu sehnâ (MoE 201).
Um die spezifisch Musilâsche Gestaltung des Gegensatzes zwischen Preu-
Ăen und Ăsterreich transparent zu machen, scheint ein Vergleich mit des-
sen literarischen Inszenierungen, ja Mythologisierungen durch andere zeit-
genössische â zumeist österreichische â Autoren hilfreich. Als diskursive
(Kontrast-)Folie eignet sich etwa das berĂŒhmt-berĂŒchtigte Schema PreuĂe und
Ăsterreicher, das Hugo von Hofmannsthal 1917 im Zusammenhang seiner pu-
blizistischen Propaganda fĂŒr die vom Zerfall bedrohte Habsburgermonarchie
entwickelt und zunÀchst just in der Berliner Vossischen Zeitung publiziert hat,
bevor er es 1918 im Wiener Amalthea Verlag als Buch in der Reihe âRodauner
NachtrĂ€geâ erscheinen lieĂ ; darin heiĂt es :
Im Ganzen : / PreuĂen : Geschaffen, ein kĂŒnstlicher Bau, von Natur armes Land, alles
im Menschen und von Menschen, daher : Staatsgesinnung als Zusammenhaltendes,
651 Vgl. dazu die AusfĂŒhrungen im folgenden Abschnitt ĂŒber Ulrich und Arnheim.
652 Vgl. Ackerl : Wiener Salonkultur um die Jahrhundertwende, S. 697, 700 u. 708.
653 âEr hoffte bei sich, daĂ sich auf diesem Wege die Gelegenheit, dem Fremden eine Falle zu
stellen, schon finden werde.â (MoE 201)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208