Seite - 1021 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 1021 -
Text der Seite - 1021 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1021
Analyse (post)moderner Gesellschaften zwischen professionellen Akademi-
kern zu differenzieren, die lÀngst jenseits der Institution des Salons agieren.
Das vordem zwischen den institutionellen Bezugspunkten Hof und Akademie
angesiedelte soziale Spannungsfeld hat sich im Prozess der Modernisierung
in das Leben der Geistesarbeiter selbst verlagert, weshalb die ĂŒberkommene
Opposition Hof vs. Akademie durch die neue Distinktionsbildung zwischen
einer autonomen intellektuellen Position und einer stĂ€rker der Ăberlieferung
verpflichteten akademischen Position ergÀnzt bzw. sogar weitgehend ersetzt
wird. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass Arnheim die habitu-
ellen Anforderungen des Salons noch bedient â eben weil er noch der alten
Dichotomie zwischen âMann von Weltâ (d. h. âhalbgebildeteâ Aristokratie, die
Bildung als Mittel der Karriere verachtet) und âGelehrtemâ verpflichtet ist â,
wÀhrend Ulrich schon eher den autonomen Intellektuellen aus der moder-
nen Wissensgesellschaft verkörpert, also den Wandel der Dichotomie ver-
anschaulicht. Dies zeigt sich nicht zuletzt am jeweiligen Umgang mit dem
romankonstitutiven PhĂ€nomen der âEigenschaftslosigkeitâ : Ulrich entspricht
der modernen Form des âeigenschaftslosenâ Akademikers innerhalb der sich
professionalisierenden und spezialisierenden Berufswelt, wÀhrend der pro-
movierte Neureiche Arnheim habituell noch das alte Modell eines âMannes
von Weltâ kopiert, was ihm viel Anerkennung unter den rĂŒckwĂ€rtsgewandten
Romanfiguren einbringt, ihn dem unerbittlich sezierenden Blick des ErzÀhlers
indes als lÀcherlich erscheinen lÀsst. Eine gleichsam dialektische Ironie liegt
zweifellos darin, dass ausgerechnet der âtraditionsloseâ PreuĂe das ĂŒberholte
Modell des Salons favorisiert und damit blendend ankommt.
Als ZwischenresĂŒmee sei formuliert, dass sich die beiden angesichts der
bestehenden Wirklichkeit gegensÀtzlich verhalten : WÀhrend der reflektie-
rende âMöglichkeitsmenschâ Ulrich âsich ein Jahr Urlaub von seinem Lebenâ
nimmt (MoE 47) und sich dadurch wie auch durch seine spÀtere Zweisamkeit
mit Agathe von der ihn umgebenden gesellschaftlichen RealitÀt distanziert, ist
das âDaseinâ des handelnden âWirklichkeitsmannesâ Arnheim âvon TĂ€tigkeit
ausgefĂŒlltâ (MoE 186). Mit allem Nachdruck affirmiert er die ihn umgebende
soziale Welt und zieht aus der auch von ihm zwischenzeitlich geteilten ver-
störenden Erkenntnis menschlicher âGestaltlosigkeitâ ganz andere SchlĂŒsse als
Ulrich, indem er etwa meint, âden AbschluĂ, die wirksame, erfolgreiche Form
mĂŒssen EinfĂ€lle darum immer von auĂen erhalten, nicht nur aus dem Denken,
sondern aus den ganzen LebensumstĂ€nden der Personâ (MoE 382). Gerade
die Erfahrung fehlender Einheitlichkeit des âIchsâ mĂŒndet bei ihm wieder in
dessen forcierte Statuierung im Geiste des klassischen Goethe :
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208