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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1028
Genau diese Diagnose einer Strategie der âdoppelten Optikâ, die Thomas
Mann in seinen Betrachtungen eines Unpolitischen (1918) dann gut nietzsche-
anisch als ambivalente Errungenschaft der Werke Richard Wagners prÀsen-
tiert692, greift Musil nun auf und forciert dabei noch die erzÀhlerische Ironie :
Die unerlĂ€Ălichste Voraussetzung, um ein GroĂschriftsteller zu werden, bleibt also
die, daĂ man BĂŒcher oder TheaterstĂŒcke schreibt, die sich fĂŒr hoch und niedrig eig-
nen. Man muĂ wirken, ehe man das Gute wirken kann ; dieser Grundsatz ist der
Boden eines jeden GroĂschriftstellerdaseins. Und das ist ein wundersames, gegen die
Versuchungen der Einsamkeit gerichtetes Prinzip, geradezu das Goethesche Prinzip
des Wirkens, daĂ man sich nur in der freundlichen Welt regen mĂŒsse, so komme
dann alles andere von selbst. (MoE 430 ; Hervorhebung von N. C. W.)
Insbesondere bei der Literaturkritik mache sich ein solches Prinzip im eigent-
lichen Wortsinn bezahlt, wie eine Wendung ins Sarkastische nahelegt :
Nun hat natĂŒrlich jeder Mensch nur eine begrenzte ArbeitsfĂ€higkeit, deren beste Er-
gebnisse verteilen sich leicht auf die jĂ€hrlichen Neuerscheinungen aus GroĂschrift-
stellerfedern, und so werden diese zu Sparkassen des nationalen Geisteswohlstandes,
indem jede von ihnen kritische Interpretationen nach sich zieht, die keineswegs nur
Auslegungen, vielmehr geradezu Einlagen sind, wĂ€hrend fĂŒr alles ĂŒbrige entspre-
chend wenig ĂŒbrig bleibt. Ins GröĂte wĂ€chst das aber erst durch die Essayisten, Bio-
graphen und Schnellhistoriker, die ihr BedĂŒrfnis an einem groĂen Mann verrichten.
(MoE 430 f.)
Der GroĂschriftsteller erscheint somit mindestens genauso als Produkt jenes
Feldes, welches er selbst unentwegt mit Produkten beschenkt, wie als dessen
692 Mann : Betrachtungen eines Unpolitischen, S. 119 f., meint damit âden Instinktâ, âraffinierte und
gutmĂŒtigere BedĂŒrfnisse zugleich zu befriedigen, die Wenigen zu gewinnen, und die Vielen
obendreinâ. Vgl. ebd., S. 121, wo âder Erfolgâ, âwelcher immer ein doppelter Erfolg ist : bei den
Artisten und bei den BĂŒrgernâ, als âdie Folgeâ einer âaristokratisch-demokratischen, artistisch-
bĂŒrgerlichen Optikâ diagnostiziert wird. Nicht ohne Selbstironie bezeichnet Mann hier seinen
eigenen Anspruch auf Erfolg als âfĂŒr seinen TrĂ€ger auf recht zweideutige Weise charakteris-
tischâ : âSchlicht definiert bedeutet er : Diesen verlangte auch nach den Dummen ⊠Was ich
aber ferner weiĂ, ist, daĂ der âErfolgâ als Folge jener doppelten Optik, die man schlimmer und
sĂŒndiger Weise von Wagner lernt, eine prekĂ€re und nicht geheuere Behausung istâ. Mann be-
zieht sich dabei auf Nietzsche : Nachgelassene Fragmente Herbst 1885 bis Herbst 1887, S. 436.
Zum ideengeschichtlichen Hintergrund vgl. Klugkist : Sehnsuchtskosmogonie, S. 439â456 ; aus
kultursoziologischer Perspektive KÀmper-van den Boogaart : Schulische KanonizitÀt als symbo-
lisches Kapital, S. 323â325.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208