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Teil II: Romantext als
Kräftefeld1034
Verzicht auf das Praktizieren der eigenen sexuellen Orientierung einschloss,
vertrat er eine prinzipiell mehrheitsfähige Form von kultureller und sozialer
„Auserlesenheit“ bei gleichbleibend hohem intellektuellen und künstlerischen
Niveau. Es ist diese Mehrheitsfähigkeit aus Prinzip, über die Musil nicht ver-
fügte und im Unterschied zu den „meisten Schriftsteller[n]“706 konsequent
auch nicht verfügen wollte, die aber seinen Sarkasmus entschieden ansta-
chelte :
Es ist natürlich das Leben in seiner heutigen Ausbildung, das zur Großindustrie des
Geistes führt, so wie es umgekehrt die Industrie zum Geist, zur Politik, zur Beherr-
schung des öffentlichen Gewissens drängt ; in der Mitte berühren sich beide Erschei-
nungen. Darum weist die Rolle des Großschriftstellers auch nicht etwa auf eine be-
stimmte Person hin, sondern stellt eine Figur am gesellschaftlichen Schachbrett dar,
mit einer Spielregel und Obliegenheit, wie sie die Zeit ausgebildet hat. (MoE 429 f.)
Mit der von Musil beschiedenen Zugehörigkeit zur „Großindustrie des Geis-
tes“ hätte das offenkundige Modell Thomas Mann wohl keine Freude gehabt,
unterstellt die maliziöse Formulierung doch eine gewisse Serialität und Mas-
senhaftigkeit der schriftstellerischen Produktion707, die der schon 1929 mit
dem Nobelpreis ausgezeichnete Verfasser der Buddenbrooks und des Zauberberg
zu Recht weit von sich gewiesen hätte. Ganz zu schweigen von den kunst-
und kulturfernen, ja antiintellektuellen politischen Implikationen des Begriffs
oder von der entindividualisierten und regelförmigen Rollenhaftigkeit der als
allzu zeitbedingt diskreditierten Erscheinungsform dieses Autortyps, die von
Manns eigener, durchaus selbstironischer Charakteristik des öffentlichkeits-
wirksamen Nationalschriftstellers Aschenbach augenfällig abweicht. Musils
essayistische Analyse der Großschriftstellerei legt demgegenüber nahe, dass
706 Vgl. folgende sarkastische Bemerkung : „[D]ie meisten Schriftsteller würden gerne Großschrift-
steller sein, wenn sie es nur könnten, aber das ist so wie mit den Bergen : zwischen Graz und
Sankt Pölten gibt es viele, die genau so auszusehen vermöchten wie der Monte Rosa, bloß
stehen sie zu niedrig.“ (MoE 430)
707 Vgl. dazu Musils Notizen zur „Ullsteinisierung“ bzw. „Industrialisierung“ des Geistes in der
„Zeit des Hochkapitals“ aus dem Arbeitsheft 31 (datiert auf den 22. Februar 1930) : „Auch in
der Dichtung geht man vom Handwerk zur Maschine über. / Ist das nicht in der Ordnung ?
Sagt nicht etwas auch in mir Ja ? / Vorbote der Kollektivleistung. In Zusammenhang mit ihren
Möglichkeiten zu kritisieren. / Wie sieht es aber konkret aus ? a) eine Öffentlichkeit, die nicht
weiß, was sie will. / b) ein Stab von Werkleuten, die immer etwas neues erfinden müssen. / c)
Die Seichtigkeit, die den ersten Angriffspunkt bietet, ist vielleicht nur eine Nebenerscheinung,
eine Art Bremse. Das eigentlich Treibende liegt in b) Aus ihm allein läßt sich eine Menge ablei-
ten.“ (Tb 1, 815)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208