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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1036
sich beschĂ€ftigte, wie es ein Mann tun muĂ, der groĂe Aufgaben vor sich sieht. Aber
offenbar war es sein Schicksal, daĂ diese Arbeitsteilung in der Stunde der Entschei-
dung zusammenbrach. In dem Augenblick, wo er sich in die Flamme seines GefĂŒhls
werfen wollte oder das BedĂŒrfnis hatte, so groĂ und ungeteilt zu sein wie die Figuren
der Urzeiten, so unbekĂŒmmert, wie es nur der wahrhaft adelige Mensch vermag, so
restlos religiös, wie es das innig erfaĂte Wesen der Liebe verlangt, in dem Augenblick
also, wo er sich ohne RĂŒcksicht auf seine Beinkleider und Zukunft Diotima zu FĂŒ-
Ăen stĂŒrzen wollte, gebot ihm eine Stimme Einhalt. Es war die zur Unzeit erwachte
Stimme der Vernunft oder, wie er sich Àrgerlich sagte, des Rechnens und Scharrens,
die sich der groĂen Lebensgestaltung, dem Geheimnis des GefĂŒhls heute allenthal-
ben entgegenstellt. Er haĂte sie und wuĂte im gleichen Augenblick, daĂ sie nicht
unrecht hatte. (MoE 509 f.)
Bereits 1925 hatte Musil in einer Zeitungsglosse die âlĂ€ngst vom Geld abhĂ€n-
gig gewordenen Lebensbeziehungenâ konstatiert und dabei wenig vornehm
âder flĂŒssigen Beweglichkeit der Geldmachtâ (GW 7, 678) seine ironische
Reverenz erwiesen ; er formuliert da wie ein liberaler Wirtschaftstheoretiker :
â[D]ie VerhĂ€ltnisse von Preis, Wert, Angebot und Nachfrage regeln sich [âŠ]
von selbst nach immanentem Gesetz.â (GW 7, 679) Dass die âSegnungen ei-
ner gesunden Wirtschaftâ (GW 7, 679) schon damals auch im innersten Be-
reich der Kultur spĂŒrbar waren, wird freilich mehr sarkastisch als zustimmend
vermerkt : âWir ĂŒberlassen die höchsten geistigen GĂŒter, wie z. B. die Kunst,
bereits ganz dem kaufmĂ€nnischen Getriebeâ (GW 7, 678), weshalb dann auch
kĂŒnstlerische Hervorbringungen gemeinhin allererst an ihrem âMarktwertâ
(GW 7, 679) gemessen werden, was aus Arnheims Perspektive â allerdings
nur insgeheim â wie ein Fortschritt anmutet.711 In seiner wohlwollenden,
wenngleich nicht durchgehend zustimmenden Rezension (1923) der vom ös-
terreichischen Nationalökonomen Alfred Schwoner verfassten Wertphilosophie
eines Outsiders konzediert Musil selbst diesem PhÀnomen zumindest einen
âteuflischen Zukunftswertâ :
Es ist nicht zu leugnen, daĂ in unsrer Zeit, â mag das nun einfach aus dem âHochka-
pitalismusâ folgen oder noch andre GrĂŒnde haben, â die Entwicklung immer mehr
711 Vgl. etwa folgende Worte aus seiner âhypothetischenâ Rede an Gott : âAber ist das Geld nicht
eine ebenso sichere Methode der Behandlung menschlicher Beziehungen wie die Gewalt
und erlaubt uns, auf ihre naive Anwendung zu verzichten ? Es ist vergeistigte Gewalt, eine ge-
schmeidige, hochentwickelte und schöpferische Spezialform der Gewalt.â (MoE 508 ; vgl. GW
8, 1386 f.)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208