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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1045
Hier kommt nun ein Aspekt zum Vorschein, der wohl einen zentralen Punkt
von Ulrichs Widerwillen gegen das Schreiben berĂŒhrt : Die Funktion von
Schriftstellerei und LektĂŒre in modernen Gesellschaften nicht als Infrage-
stellung des Bestehenden, sondern als Form bloĂer SelbstbestĂ€tigung und
Selbstinszenierung.723 Ausgehend von seiner Auseinandersetzung mit Arn-
heim entwickelt Ulrich eine negative Typologie von SchreibanlÀssen und
-motiven :
Wenn ein Mensch so reich an Geld und EinfluĂ ist, daĂ er alles wirklich haben kann,
warum schreibt er dann ? Eigentlich mĂŒĂte ich ganz naiv fragen, warum alle Berufser-
zÀhler schreiben ? Sie erzÀhlen etwas, das es nicht gegeben hat ; so, als ob es das gege-
ben hÀtte. Das ist offenbar. Aber bewundern sie nun das Leben wie die Schnorrer den
reichen Mann, die sich nicht genug tun können, davon zu erzÀhlen, wie wenig es ihm
auf sie ankommt ? Oder kĂ€uen sie wiederholend wieder ? Oder treiben sie GlĂŒcks-
diebstahl, indem sie etwas, das sie in Wirklichkeit nicht erreichen oder nicht ertragen
können, in der Phantasie herstellen ? (MoE 418)
Mit diesem letzten Gedanken, der eine zentrale These aus Freuds Essay Der
Dichter und das Phantasieren (1907) ins Kritische wendet724, schlieĂt Ulrich seine
skeptische Reflexion ĂŒber Lesen und Schreiben in der Moderne ab. Nicht prin-
zipiell hat er damit Probleme, sondern angesichts der konkret sichtbaren Pra-
xis, die immer mehr zum Symptom fĂŒr ganz andere soziale Entwicklungen ge-
rĂ€t. Insofern kann als Fazit der Ăberlegungen zur Rolle von Schrift und LektĂŒre
fĂŒr das VerhĂ€ltnis zwischen Ulrich und Arnheim eine Diagnose von Musils Er-
zĂ€hler gelten : âUlrich gehörte zu den BĂŒcherliebhabern, die nicht mehr lesen
mögen, weil sie das Ganze des Schreibens und Lesens als ein Unwesen emp-
finden.â (MoE 867) Dies bedeutet keineswegs, dass der sich zwar ostentativ
der LektĂŒre und dem Schreiben verweigernde Mann ohne Eigenschaften nicht
doch eine abgrĂŒndige Liebe zur Dichtung hegt, die viel weiter geht als jenes
von Arnheim gleichsam als âKnabenlasterâ abgetane AusdrucksbedĂŒrfnis oder
aber jene schnelle Fertigkeit des Klatschreporters Meseritscher, âeine blen-
723 Vgl. dazu die noch direkteren Worte Musils auf dem âIdeen-Einzelblatt 29â zum âSchreibenâ
in der Moderne : Demnach âbleiben keine Leser ĂŒbrig. Sondern nur Menschen, welche un-
tersuchen, wie weit der Autor von ihnen abirrt. Man weiĂ es ja doch im Grunde besser ; man
streicht an, was einem gefĂ€llt.â (M I/1/65)
724 Vgl. Freud : Der Dichter und das Phantasieren, S. 214 u. 221. Dazu auch folgende Reflexion
Musils aus dem âIdeen-Einzelblatt 29â : âPhantasie ist eigentlich nur in einer Welt erlaubt, wo
man sich das GlĂŒck auf keine andere Weise verschaffen kann. Oder vor einem GlĂŒck, das es in
der Welt nicht gibt.â (M I/1/65)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208