Seite - 1046 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 1046 -
Text der Seite - 1046 -
Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1046
dende Gesellschaftsschilderung bloà dadurch zu geben, daà man aufzÀhlt : der
und die waren da, hatten dies und das an und Ă€uĂerten das und jenes ; worauf
allerdings gerade das hinauslĂ€uft, was von vielen fĂŒr die echteste erzĂ€hlerische
Kunst gehalten wirdâ (MoE 1014). An solcher Society-Reportage nach Art der
âSeitenblickeâ exemplifiziert Musil einen ganzen Strang regressiven ErzĂ€hlens
in der Moderne.725 Ulrich hingegen ĂŒbt sich etwa in den geschwisterlichen Ge-
sprĂ€chen ĂŒber Mystik unentwegt mĂŒndlich an einer âtatsĂ€chlichâ dichterischen
Sprache, wie eine metasprachliche Auslassung des Kapitels âHeilige GesprĂ€-
che. Beginnâ ausdrĂŒcklich nahelegt : âUlrich dichtete wohl ; doch das Feuer und
die Festigkeit seiner Sprache hoben sich von ihrem zarten und schwebenden
Inhalt metallen ab. Er schien eine Vorsicht abgeworfen zu haben, die ihn sonst
beherrschte, und Agathe sah ihn erstaunt an, aber auch mit unruhiger Freude.â
(MoE 751) Zumindest bei seiner liebenden Schwester scheint der âDichterâ
Ulrich gut anzukommen. In den nachgelassenen Druckfahnenkapiteln fÀngt
er ĂŒberdies an, spĂ€t und heimlich ein âTagebuchâ mit aphoristischen Aufzeich-
nungen zu fĂŒhren (vgl. MoE 1123â1130, 1138â1146, 1156â1174 u. 1203). Auch
im eigentlichen Wortsinn muss man Blanchots abschlieĂenden Worten zu
Ulrich deshalb vorbehaltslos beipflichten : âIm Grunde ist er in reinster Form
ein Schriftsteller und kann nichts anderes sein. Die Utopie des âEssaysâ ist sein
725 Der Dichter Feuermaul nennt âMeseritscher vor Meseritscherâ den âHomer unserer Zeitâ,
denn : âdas episch unerschĂŒtterliche âUndâ, mit dem Sie alle Menschen und Ereignisse anein-
anderreihen, hat in meinen Augen etwas ganz GroĂes !â (MoE 1014) Dazu fĂŒhrt der ErzĂ€hler
ironisch aus : âOhne auf die feinere Unterscheidung zwischen Idioten und Kretins einzugehen,
darf nun daran erinnert werden, daĂ es einem Idioten gewissen Grades nicht mehr gelingt,
den Begriff âElternâ zu bilden, wĂ€hrend ihm die Vorstellung âVater und Mutterâ noch ganz ge-
lĂ€ufig ist. Dieses schlichte, aneinanderreihende âUndâ war es aber auch, durch das Meseritscher
die Erscheinungen der Gesellschaft verband. Ferner ist daran zu erinnern, daĂ Idioten in der
schlichten Dinglichkeit ihres Denkens etwas besitzen, das nach der Erfahrung aller Beobachter
in geheimnisvoller Weise das GemĂŒt anspricht ; und daĂ Dichter auch vornehmlich das GemĂŒt
ansprechen, ja sogar auf eine soweit gleiche Weise, als sie sich durch eine möglichst handgreif-
liche Geistesart auszeichnen sollen. Wenn Friedel Feuermaul also Meseritscher als Dichter
ansprach, hĂ€tte er ihn ebensogut [âŠ] auch als einen Idioten ansprechen können, und zwar auf
eine auch fĂŒr die Menschheit bedeutsame Weise. Denn das Gemeinsame, um das es sich da
handelt, ist ein Geisteszustand, der durch keine weitspannenden Begriffe zusammengehalten,
durch keine Scheidungen und Abstraktionen gelÀutert wird, ein Geisteszustand der niedersten
ZusammenfĂŒgung, wie er sich am anschaulichsten eben in der BeschrĂ€nkung auf das einfachste
Binde-Wort, das hilflos aneinanderreihende âUndâ ausdrĂŒckt, das dem Geistesschwachen ver-
wickeltere Beziehungen ersetzt ; und es darf behauptet werden, daĂ sich auch die Welt, uner-
achtet alles in ihr enthaltenen Geistes, in einem solchen der ImbezillitÀt verwandten Zustand
befindet, ja es lĂ€Ăt sich das gar nicht vermeiden, wenn man die Geschehnisse, die sich in ihr
abspielen, aus dem Ganzen verstehen will.â (MoE 1014 f.) Vgl. dazu auch die Rede Ăber die
Dummheit (GW 8, 1287).
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208