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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1047
Anliegen, das er mit leidenschaftlicher KĂ€lte verfolgt.â726 Dies sei hier nur des-
halb erwÀhnt, um die AffinitÀt Ulrichs zu einem emphatischen Dichtertum im
Sinne Musils zu unterstreichen und seine Distanz zu Arnheim auch inhaltlich
zu plausibilisieren.727
Arnheims sonst zu beobachtende âFĂ€higkeit, sich mit jedermann in dessen
Sprache unterhalten zu könnenâ â sein âGrundzugâ, den Musil âtheoretisch
wie praktisch als zentralen hervorhebtâ728 â, stöĂt beim Mann ohne Eigen-
schaften offensichtlich an ihre Grenzen bzw. auf eine Ă€uĂerst ressentimentge-
ladene Ablehnung. Ulrich nĂ€mlich hat ein habituelles âGespĂŒr fĂŒr die soziale
Distanzâ zwischen ihm und dem GroĂschriftsteller ; dieses âzwingtâ ihn ge-
radezu, âDistanz zu halten, sogar in der Phantasieâ.729 Mehr noch, es drĂŒckt
sich auch in einer regelrechten persönlichen Idiosynkrasie aus : âEr mochte
Arnheim nicht ausstehen, schlechtweg als Daseinsform nicht, grundsÀtzlich,
das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, GeschÀft, Wohlleben und
Belesenheit war ihm im höchsten Grade unertrĂ€glich.â (MoE 176) Die allge-
meine Aversion schlÀgt sich in jeder konkreten Einzelwahrnehmung nieder,
die ihrerseits jeweils auf âdas Ganzeâ verweist :
Ulrich beobachtete Arnheim [âŠ]. Aber es waren nicht Einzelheiten der Physiogno-
mie, woran sein Unwille hÀngen blieb, sondern das Ganze schlechtweg. Obgleich
diese Einzelheiten [âŠ] genĂŒgend bemerkenswert waren. Das gute VerhĂ€ltnis, in dem
alles zueinander stand, war es, was Ulrich reizte. Diese Sicherheit besaĂen auch Arn-
heims BĂŒcher [âŠ]. In Ulrich erwachte eine Gassenjungenlust, mit Steinen oder Stra-
Ăendreck nach diesem in Vollkommenheit und Reichtum aufgewachsenen Menschen
zu werfen, wÀhrend er zusah, mit welcher Aufmerksamkeit der sich anstellte, um den
726 Blanchot : Musil, S. 204 f.
727 Zum Hintergrund der romanesken Kritik an der âfalsch-utopischenâ Schriftstellerei Arnheims
und anderer Autoren vgl. folgende Reflexion Musils aus dem âIdeen-Einzelblatt 29â : âSchrei-
ben ist eine Verdoppelung der Wirklichkeit. Die Schreibenden haben nicht den Mut, sich fĂŒr
utopische Existenzen zu erklÀren. Sie nehmen ein Land Utopia an, in dem sie auf ihrem Platz
wÀren ; sie nennen es Kultur, Nation usw. Eine Utopie ist aber kein Ziel, sondern eine Rich-
tung. Aber alle ErzÀhlungen fingieren, daà es etwas gibt, das gewesen oder gegenwÀrtig ist,
wenn auch an einem unwirklichen Ort. [âŠ] Beschreibung der Dichter. (Wollen eine religiöse
Menschheit, ohne fĂŒr ihre Person die Konsequenz zu ziehn udgl.) Sie beschreiben nicht ihre
Neigung und Richtung, sondern ein Ziel. Alle ErzÀhlungen fingieren eine Wirklichkeit. So na-
tĂŒrlich ⊠doch Schnorrerei. Die gleiche, wie die der Zeitungen, welche Arnheim machen und
bewundern. LĂ€hmung durch Erreichen. GlĂŒcksdiebstahl [Randbemerkung :] Weltdiebstahlâ
(M I/1/65).
728 Howald : Ăsthetizismus und Ă€sthetische Ideologiekritik, S. 285.
729 Bourdieu : Die Regeln der Kunst, S. 40.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208