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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1050
unverschĂ€mten GegenĂŒber mit jener provokanten Freundlichkeit entgegen-
kommt, die Ulrich seinerseits in Gegenwart Hans Sepps oder SchmeiĂers an
den Tag legt.731
Arnheims ostensible Freundlichkeit in der Gegenwart des Mannes ohne
Eigenschaften kann jedoch nur vor Diotima, nicht jedoch vor den Leserinnen
und Lesern des Romans seine heftige Eifersucht ĂŒberdecken, die sich etwa
in intriganten Sticheleien gegen den abwesenden Ulrich entlÀdt (vgl. MoE
270 u. 323 f.). Diese kaum verborgenen Spitzen, die seiner eigentlich nicht
wĂŒrdig sind und sogar Diotima missfallen (vgl. MoE 276), erinnern strukturell
an Walters âBedĂŒrfnis, schlecht von Ulrich zu sprechenâ (MoE 62 f.). Um dem
Ansehen Ulrichs bei ihr zu schaden, macht Arnheim Diotima etwa auf dessen
VerhÀltnis zur verheirateten Bonadea aufmerksam (vgl. MoE 819). Er vertritt
darĂŒber hinaus sogar die EinschĂ€tzung, Ulrich sei âein gefĂ€hrlicher Mensch,
mit seiner infantilen moralischen Exotik und seinem ausgebildeten Verstand,
der immer Abenteuer sucht, ohne zu wissen, was ihn eigentlich dazu treibtâ
(MoE 324). Gleichzeitig konzediert er ihm aber âetwas auĂerordentlich Freies
und UnabhĂ€ngiges neben vielem, was innerlich steif und sonderbar istâ (MoE
324).732 Arnheims ambivalente Diagnose gipfelt nach einem ĂŒberraschenden
Lob zwar in dem typischen Pedanterievorwurf des BesitzbĂŒrgers gegenĂŒber
dem BildungsbĂŒrger (bzw. des âMannes von Weltâ gegenĂŒber dem âGelehr-
tenâ), zeugt aber dennoch von Respekt. Eine gewisse Anerkennung kann er
Ulrich nicht versagen, und das wohl nicht zuletzt aufgrund der eigentĂŒmli-
chen âAngstâ, die er vor dessen UnabhĂ€ngigkeit empfindet, wie der Mann
ohne Eigenschaften richtig bemerkt (MoE 275). Contre cĆur bringt sie der
GroĂschriftsteller mit Ulrichs kompromissloser IntellektualitĂ€t in Zusammen-
hang, die er mit aller Kraft als Defizienz zu deuten trachtet :
Es gab etwas, das Arnheim Ulrichs Witz nannte. Zum Teil meinte er damit diese Un-
fÀhigkeit eines geistvollen Mannes, die Vorteile zu erkennen, die das Leben bietet,
und seinen Geist den groĂen GegenstĂ€nden und Gelegenheiten anzupassen, die ihm
WĂŒrde und Standfestigkeit verleihen könnten. Ulrich zeigte die lĂ€cherliche gegentei-
lige Gesinnung, das Leben mĂŒsse sich dem Geist anpassen. Arnheim sah ihn vor sich ;
731 Vgl. die einschlÀgigen Abschnitte unten im gegenwÀrtigen Kapitel.
732 Dass Arnheims Konzession von Bedeutung ist, zeigt ihre Wiederholung im Romankontext :
âSo dachte Arnheim hin und her, wie es nicht zum erstenmal geschah, aber trotz der Zweifel
an sich selbst, die ihn heute beherrschten, war es ihm unmöglich, in irgendeiner einzelnen
Frage Ulrich den Vorrang einzurĂ€umen, und er kam zu dem SchluĂ, der entscheidende Un-
terschied bestehe am wahrscheinlichsten darin, daĂ Ulrich etwas abgehe. Dennoch war an
diesem Menschen im ganzen etwas Unverbrauchtes und Freiesâ (MoE 548).
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208