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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1051
ebenso groĂ wie er selbst, jĂŒnger, ohne die Weichheiten, die er an seinem eigenen
Körper sich nicht verbergen konnte ; etwas bedingungslos UnabhÀngiges war im Ge-
sicht ; er fĂŒhrte es, nicht ganz ohne Neid, auf den Abkömmling asketischer Gelehrten-
geschlechter zurĂŒck, denn so stellte er sich Ulrichs Herkunft vor. Unbesorgter um
Geld und Wirkung war dieses Gesicht, als eine aufstrebende Dynastie von Veredlungs-
verkehrfachleuten es ihren Nachkommen gestattet ! Aber in diesem Gesicht fehlte et-
was. Das Leben fehlte darin, die Spuren des Lebens fehlten erschrecklich ! (MoE 540)
Arnheim kommt dabei der lebensphilosophische Zeitgeist entgegen, der
ihm ermöglicht, den sonst ein wenig neidvoll betrachteten Intellektuellen als
bloĂen TrĂ€umer zu diskreditieren und dessen geistige Unbestechlichkeit als
fehlende Lebenserfahrung und LebensfÀhigkeit abzutun. UnabhÀngig davon
nimmt er aber auch die oben schon ausgefĂŒhrten Parallelen und AffinitĂ€ten
wahr, die zwischen ihnen bestehen, angesichts differenter Habitusausbildun-
gen jedoch zu unterschiedlichen Praxisformen fĂŒhren :
Arnheim wuĂte mit einemmal, daĂ auf dem Leben dieses Mannes der gleiche Schat-
ten lag wie auf dem seinen, dort aber eine andere Wirkung hatte ! [âŠ] Der grobe
Erwerbstrieb fĂŒr die Vorteile des Lebens fehlte Ulrich noch mehr als ihm, und der
sublime Erwerbstrieb, der Wunsch, sich die WĂŒrden und Wichtigkeiten des Daseins
zu eigen zu machen, fehlte ihm in einer geradezu Àrgerlichen Weise. Dieser Mensch
war ohne BedĂŒrfnis nach Gewicht und Substanz des Lebens. Sein sachlicher Eifer,
der nicht zu bestreiten war, eiferte nicht nach dem Besitz der Sache ; Arnheim wĂŒrde
sich geradezu an seine Angestellten erinnert gefĂŒhlt haben, wenn die Selbstlosigkeit
ihrer Berufshaltung in Ulrichs Anwendung nicht etwas ungemein HochmĂŒtiges an
sich gehabt hÀtte. Man konnte eher sagen, ein Besessener, der kein Besitzender sein
will. Man konnte vielleicht auch den Gedanken an einen Streiter in freiwilliger Ar-
mut bilden. Auch schien es möglich zu sein, von einem ganz und gar theoretischen
Menschen zu sprechen ; nur stimmte das wieder nicht, weil man ihn eigentlich ĂŒber-
haupt nicht einen theoretischen Menschen nennen konnte. Arnheim erinnerte sich
da, ihm einmal ausdrĂŒcklich erklĂ€rt zu haben, daĂ seine denkerischen FĂ€higkeiten
hinter seinen praktischen zurĂŒckstĂŒnden. Sah man ihn aber praktisch an, so war die-
ser Mensch völlig unmöglich. (MoE 547 f.)
Der Nabob, dem âetwas Ăhnliches lange nicht widerfahrenâ ist und der sich
davon merklich irritiert zeigt â nicht zuletzt in seinem eigenen Anspruch auf
âGanzheitlichkeitâ733 â, versucht deshalb, âseinen Gegner auf irgendeine Weise
733 âArnheim gestand sich zögernd ein, daĂ es ihn geradezu an das âGeheimnis des Ganzenâ erin-
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208