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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1054
sich dann auch noch nach Arnheims Interesse an âder Erwerbung von groĂen
Teilen der galizischen Ălfelderâ (MoE 642) erkundigt, vollzieht der âbleich
geworden[e]â Nabob nun auch körperlich einen âSchulterschlussâ : â[E]r trat
mit einer lÀchelnden Bewegung an Ulrich heran, legte ihm die Hand, ja ei-
gentlich den Arm auf die Schulter und sagte vorwurfsvoll : âWie können Sie
einem solchen BörsengerĂŒcht aufsitzen !ââ (MoE 643) Ulrichs PerplexitĂ€t an-
gesichts dieses Distanzlosigkeit macht sich in spöttischen Bemerkungen ĂŒber
Arnheims unentschiedene Beziehung zu Diotima Luft, die von dem immer
noch auf Ulrichs Schulter befindlichen Arm Arnheims durch âeine freund-
schaftliche leichte Bewegungâ pariert wird und den widerwillig Umarmten
seine ganze Hilflosigkeit spĂŒren lĂ€sst :
Dieser Arm auf seiner Schulter machte Ulrich unsicher. Es war eine lÀcherliche und
unangenehme Empfindung, sich umarmt zu fĂŒhlen, ja man konnte sie geradezu jĂ€m-
merlich nennen ; aber Ulrich hatte lange Zeit keinen Freund besessen, und vielleicht
war es darum auch ein wenig verwirrend. Er wĂŒrde diesen Arm gern abgestreift
haben, und unwillkĂŒrlich bemĂŒhte er sich darum ; aber Arnheim nahm die kleinen
Zeichen von Unwillkommenheit wahr und muĂte sich anstrengen, um das nicht mer-
ken zu lassen, und aus Höflichkeit, weil er Arnheims schwierige Lage mitfĂŒhlte, hielt
Ulrich still und ertrug die BerĂŒhrung, die nun immer sonderbarer auf ihn zu wirken
begann, wie ein schweres Gewicht, das in einen locker aufgeschĂŒtteten Damm ein-
sinkt und ihn entzweireiĂt. Diesen Wall von Einsamkeit hatte Ulrich [âŠ] um sich
aufgerichtet, und nun drang durch eine Bresche das Leben ein, der Puls eines an-
deren Menschen, und es war ein dummes GefĂŒhl, lĂ€cherlich, aber doch ein wenig
aufregend. (MoE 643 f.)
Musil verarbeitet hier das offenbar wiederholte Erlebnis einer fĂŒr ihn anschei-
nend unangenehmen Eigenart Walther Rathenaus, ĂŒber den er in seinem Ar-
beitsheft 7 notiert : âEr sagt gern : Aber, lieber Herr Doktor und faĂt einen
er erregt war. Eigentlich wunderte er sich in diesem Augenblick darĂŒber, daĂ er Ulrich nun
wirklich ein solches Angebot gemacht habe, durch dessen ZurĂŒckweisung er nur bloĂgestellt
werden konnte, ohne daĂ mit der Annahme ein erfreulicher Zweck verbunden war. Denn die
Vorstellung, dieser vor ihm befindliche Mensch könnte zu etwas imstande sein, was er selbst
nicht zuwegebringe, war im Verlauf des GesprĂ€chs geschwunden, und das BedĂŒrfnis, diesen
Mann zu verfĂŒhren und in seine Macht zu bringen, war unsinnig geworden, seitdem es sich
Luft gemacht hatte. [âŠ] âWas soll geschehn,â fuhr es Arnheim durch den Kopf âwenn dieser
Mensch annimmt ? !â In solcher Weise nĂ€herten sich die gespannten Augenblicke ihrem Ende,
in denen ein Arnheim auf die Entscheidung eines jĂŒngeren Mannes warten muĂte, dem er nur
durch seine Einbildung Bedeutung geliehen hatte.â (MoE 640 f.)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208