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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1057
Zwar glaubt Ulrich, âArnheim gut zu verstehenâ (MoE 468), doch unterliegt
der Intellektuelle dabei in mehrerer Hinsicht einer bezeichnenden SelbsttÀu-
schung, was sich etwa an seinem völligen UnverstĂ€ndnis der âMachtleiden-
schaftâ zeigt, die er sich âin dem AusmaĂ, wie sie Arnheim beherrschte, nicht
vorstellen konnteâ (MoE 567). Auch der radikale Ăkonomismus des Nabobs
sogar in Liebesdingen wurde bereits angesprochen741 : âArnheim wĂŒrde dem
Herrn geraten haben, das TausendjÀhrige Reich nach kaufmÀnnischen Grund-
sĂ€tzen einzurichten und seine Verwaltung einem GroĂkaufmann zu ĂŒbertragenâ
(MoE 508). Ein solches KalkĂŒl ist Ulrich vollkommen fremd, es steht ihm seine
antiökonomische Ăkonomie der Verausgabung nicht nur in Liebesdingen ent-
gegen (vgl. MoE 511 vs. 541) : âJa, das war es, was Arnheim merkwĂŒrdigerweise
auch unter Ulrichs Witz verstand. Es wurde ihm in diesem Augenblick [âŠ]
klar : die Vorstellung, ein Mann könnte sich von seiner Leidenschaft gleichsam
ĂŒber den atembaren Raum hinausreiĂen lassen, kam ihm wie ein Witz vor !â
(MoE 541) Umgekehrt legt Arnheim im GesprĂ€ch ĂŒber ökonomische und po-
litische Angelegenheiten â nicht jedoch im entsprechenden Handeln â jenen
puren Irrationalismus und jene Ungenauigkeit an den Tag, die Ulrichs rekurren-
ter Berufung auf Genauigkeit und wissenschaftliche Weltanschauung diametral
entgegenstehen. Hier offenbart sich einmal mehr der Unterschied zwischen
bloĂem Diskurs und gesellschaftlicher Praxis des autonomen Intellektuellen742
und des GroĂschriftstellers, der gleichzeitig ein interessegeleiteter Industrieller
ist. Ein spÀtes GesprÀch zwischen Ulrich und Stumm in Kap. 13 des Zweiten
Buchs (âUlrich kehrt zurĂŒck und wird durch den General von allem unterrich-
tet, was er versĂ€umt hatâ) fĂŒhrt dies noch einmal anschaulich vor Augen :
â[âŠ] Ich meine, der Arnheim hĂ€lt dich nicht gerade fĂŒr einen Tatmenschen ; das hat
er einmal gesagt. Du hast nichts zu tun, meint er, und das bringt dich auf Gedan-
ken. Oder so Ă€hnlich.â / âDas heiĂt, auf unnĂŒtze ? Auf Gedanken, die sich nicht âin
MachtsphĂ€ren tragenâ lassen ? Auf Gedanken um ihrer selbst willen ? Mit einem Wort,
auf richtige und unabhĂ€ngige ! Was ? Oder vielleicht auf die Gedanken eines âșweltfer-
nen Ăsthetenâč ?â / âJaâ versicherte Stumm von Bordwehr diplomatisch. âSo Ă€hnlich.â
/ âWem Ă€hnlich ? Was, glaubst du, ist dem Geist gefĂ€hrlicher : TrĂ€ume oder Ălfelder ?
[âŠ] Mir ist es ganz egal, was Arnheim von mir denkt. [âŠ]â (MoE 778)
741 Vgl. die AusfĂŒhrungen zu Diotima und Arnheim in Kap. II.3.1.
742 Laermann : Eigenschaftslosigkeit, S. 23, sieht in Ulrichs sozialem DĂ©gagement hingegen einen
âAkt der SelbstentmĂŒndigungâ, der aus der âIllusionâ resultiere, âsich die Qual der Wahl erspa-
renâ und dieses Versagen vor dem âZwang der Entscheidungâ dann als Akt âder Autonomie
ansehen zu könnenâ. Eine implizite Voraussetzung dieser Argumentation ist die vorausgehende
Kenntnis dessen, was ârichtigâ und was âfalschâ ist.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208