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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1058
Ulrich pocht auf intellektuelle Konsequenz, Autonomie und Phantasie743 und
reprĂ€sentiert damit romanintern gegenĂŒber Arnheim die Vorstellung âreinerâ
Dichtung.744 Arnheim hingegen steht fĂŒr eine problematische Nivellierung der
differenten âWertsphĂ€renâ (Max Weber) von Kunst und Ăkonomie und ist da-
rin, insbesondere aber in seiner Ablehnung des Verstandes und der modernen
Wissenschaft, von erheblicher zeitanalytischer Signifikanz.745 Auch hier zeigt
sich, âdaĂ die Weisheit der Zeit tatsĂ€chlich mit der Weisheit Arnheims ĂŒber-
einstimmteâ (MoE 434). Zugleich aber hat er eine geradezu mĂ€eutische Funk-
tion zur Offenlegung der inhÀrenten Probleme des Mannes ohne Eigenschaf-
ten : Als âUlrichs Gegenspielerâ trĂ€gt Arnheim zur Entzauberung von dessen
â zwar nicht âregressivenâ746 â Utopien bei, indem er ihm etwa vorhĂ€lt :
Sie verlangen das BewuĂtsein des Versuchs ! [âŠ] Die verantwortlichen FĂŒhrer sol-
len daran glauben, daĂ sie nicht Geschichte zu machen, sondern Versuchsprotokolle
auszufĂŒllen haben, die weiteren Versuchen zur Grundlage dienen können ! Ich bin
entzĂŒckt von diesem Einfall ; aber wie sieht es zum Beispiel mit Kriegen und Revolu-
tionen aus ? Kann man die Toten wieder aufwecken, wenn der Versuch durchgefĂŒhrt
ist und vom Arbeitsplan abgesetzt wird ? ! (MoE 636)
Mit diesen Worten trifft der GroĂschriftsteller das blinde Zentrum der von
Ulrich vertretenen Utopie des Essayismus.747 Er leitet damit eine Reihe von
743 Schon bei Diotima spricht sich Ulrich gegen den Zwang einer unmittelbaren Anwendbarkeit
der Resultate des Denkens aus (vgl. MoE 274).
744 Eine vorsichtige Andeutung in diese Richtung macht bereits Pekar : Die Sprache der Liebe,
S. 217 f.
745 Vgl. auch folgenden ErzÀhlerkommentar, der die von Rathenau verkörperte antimoderne und
antirationalistische Zeitmode allerdings mit einer fragwĂŒrdigen gendertypologischen Codierung
auflĂ€dt : â[E]r war darin nicht anders wie sein ganzes Zeitalter, das nicht aus religiöser Bestim-
mung eine starke religiöse Neigung neu entwickelt hat, sondern nur, wie es scheint, aus einer
weiblich reizbaren Auflehnung gegen Geld, Wissen und Rechnen, denen es leidenschaftlich un-
terliegt.â (MoE 390) Schon in Musils frĂŒhen Rathenau-Notizen aus dem Arbeitsheft 8 heiĂt es :
âErst wenn ich mich frage, wie ein geistvoller und zweifellos kenntnisreicher Mann zu einer
solchen mystischen Causerie sich verleiten lassen kann, zu einer wegwerfenden Behandlung
wohlerprobter Denkmethoden, stoĂe ich auf jene Typik, die fĂŒr mich etwas Ergreifendes hat, weil
sie wertvolle Menschen heute von ihrer Bestimmung abzieht.â (Tb 1, 393, H 8/84 ; vgl. H 2/13)
Ganz Ă€hnlich ein Kommentar Musils aus dem Nachlass mit folgendem Fazit : âEin wertvoller
Mensch zur Selbstkarrikatur [sic] verleitet ist typisch fĂŒr heute und ergreifend.â (Tb 2, 1103)
746 So aber McBride : âEin schreibender Eisenkönig ?â, S. 287 ; vgl. ebd., S. 296.
747 Vgl. ebd., S. 297 : âDas ist eine Bemerkung, die tatsĂ€chlich auch von dem Pragmatiker Rathe-
nau stammen könnte. Ulrichs fundamentalistisches [?] Vorhaben, die Wirklichkeit abzuschaffen
[âŠ], setzt sich ĂŒber genau jene Gewalt hinweg, welche die Umsetzung dieses Gedankens in
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208