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„Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ 1065
haben ja auch heute alle viel weniger Freude an den großen Gedanken der Mensch-
heit, als, sagen wir, vor hundert Jahren. Aber anderseits hat natürlich auch die Ge-
sinnung der Menschenliebe etwas für sich […] ! Seine Erlaucht ist also für die eine
Strömung, aber er entzieht sich auch nicht der andern ! (MoE 1010)
Die von Leinsdorf geforderte und verkörperte Verbindung der beiden Strö-
mungen wird jedoch keineswegs allgemein gebilligt, zumal der Graf selber gar
nicht in der Lage ist, zwischen ihnen einen Widerspruch zu erkennen, wie er
an anderer Stelle zugibt : „[W]as ich nicht verstehe, bleibt das Folgende : Daß
die Menschen einander lieben sollen und daß die Regierung dazu eine starke
Hand braucht, das hat man ja immer gewußt ; also warum soll das auf einmal
ein ‚Entweder-Oder‘ sein ?“ (MoE 1019) Stumm muss zur Fortsetzung seiner
Erläuterung mithin weiter ausholen :
Gehen wir also vielleicht noch einmal von der Tatsache aus, daß ich zwei Strö-
mungen des Zeitgeistes bemerke. Die eine Strömung sagt, daß der Mensch von Na-
tur gut ist, wenn man ihn sozusagen nur in Ruh läßt – […] denken Sie bloß an die
Pazifisten, an die Rohköstler, an die Gegner der Gewalt, an die natürlichen Lebens-
reformer, an die Antiintellektuellen, an die Kriegsdienstverweigerer […], und alle, die
sozusagen dieses Vertrauen in den Menschen setzen, bilden zusammen eine große
Strömung. […] [W]enn Sie wollen, können wir […] auch vom Gegenteil ausgehn.
Gehn wir also vielleicht von der Tatsache aus, daß der Mensch geknechtet werden
muß, weil er alleinig und von selbst niemals das Rechte tut […]. Die Masse braucht
eine starke Hand, sie braucht Führer, die mit ihr energisch umgehn und nicht bloß
reden, also mit einem Wort, sie braucht über sich den Geist der Tat ; die menschliche
Gesellschaft besteht eben sozusagen nur aus einer kleinen Anzahl von Freiwilligen,
die dann auch die nötige Vorbildung haben, und aus Millionen ohne höheren Ehr-
geiz, die nur zwangsweise dienen […] ! Und weil sich diese Erkenntnis allmählich
auf Grund der gemachten Erfahrungen auch in unserer Aktion Bahn gebrochen hat,
ist nun die erste Strömung […] sozusagen erschrocken vor der Befürchtung, daß
die große Idee der Liebe und des Glaubens an den Menschen ganz verloren gehen
könnte, und da waren dann Kräfte am Werk, die eben den Feuermaul in unsere Ak-
tion entsendet haben, um im letzten Augenblick zu retten, was noch zu retten ist.
(MoE 1010 f.)
Professor Schwung unterbricht Stumm von Bordwehrs Ausführungen über die
Vertreter einer angeborenen menschlichen ‚Güte‘ mit der skeptische Nach-
frage, „wer […] heute so naiv denken“ könne, wo man „doch nicht mehr in
der Ideenwelt des achtzehnten Jahrhunderts“ lebe (MoE 1010). Er zielt damit
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208