Seite - 1073 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 1073 -
Text der Seite - 1073 -
âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1073
sils utilitaristisch-pazifistisches PlĂ€doyer zugunsten âeiner neuen möglichen
Weltordnungâ (GW 8, 1075), die er etwa im Essay Die Nation als Ideal und als
Wirklichkeit (1921) fordert775 ; auch darauf wird noch ausfĂŒhrlicher zurĂŒckzu-
kommen sein.776
Im gegenwÀrtigen Kontext sei stattdessen die zeitgenössische ideologische
Gemengelage in Erinnerung gerufen, aus der heraus Musil seine romaneske
Konstellation entwirft. Neben den philologisch eindeutig verifizierbaren
RĂŒckgriffen auf seine Auseinandersetzung mit Franz Werfel und Josef Pop-
per-Lynkeus existiert nÀmlich noch ein anderer einschlÀgiger biografischer
Zusammenhang, auf den Musil â so hat es zumindest den Anschein â rekur-
rieren konnte : Wenn man einem rĂŒckblickenden Bericht Soma Morgensterns
Glauben schenken mag â was allerdings nicht unproblematisch ist â, dann hat
sich Musil nach dem Ersten Weltkrieg unter den Wiener Literaten mehrmals
lapidar âfĂŒr Kriegâ ausgesprochen und dieses âschlichte Bekenntnisâ plump-
pathetisch mit dem âgroĂe[n] Erlebnis des Todesâ begrĂŒndet.777 Dem habe
Morgenstern empört entgegengehalten : âSie denken also, daĂ es gut ist, wenn
Menschen getötet werden, damit der Schriftsteller Musil âdas groĂe Erlebnis
des Todesâ auskoste ? Was mich betrifft[,] stehe ich auf dem Standpunkt, daĂ
es fĂŒr den Schriftsteller, der âdas groĂe Erlebnis des Todesâ haben möchte,
nur eine rechtschaffene Gelegenheit gibt, nĂ€mlich : seinen eigenen Tod.ââ778
Morgenstern behauptet nun, Musil habe sich trotz inneren Widerwillens der
suggestiven Kraft dieses Arguments nicht entziehen können.779 An der Rich-
tigkeit der offenbar aus groĂem historischen Abstand verfassten Darstellung
scheinen allerdings erhebliche Zweifel angebracht780 : Einerseits sind von Mu-
sil zumindest in schriftlicher Form keine derart ambivalenzfreien Apotheosen
775 Er denkt dabei freilich nicht an den âVölkerbund und kompromittierte, unoriginelle Zivilisa-
tionsidealeâ, die damals realpolitisch diskutiert wurden, sondern zunĂ€chst â viel utopischer
und internationalistischer â gleich an eine vollstĂ€ndige âĂberwindung des Staatsâ als national
definierte gesellschaftliche Organisationsform, zumindest aber an eine âKritik des Staatsâ im
herkömmlichen NationsverstÀndnis, wie er 1920 im Arbeitsheft 8 festhÀlt (Tb 1, 359).
776 Vgl. dazu das Kap. III.1.1.
777 Morgenstern : Aus Notizheften, S. 577 ; vgl. den Hinweis darauf in Corino : Musil [2003],
S. 610 f.
778 Morgenstern : Aus Notizheften, S. 578.
779 Vgl. ebd. Aus den von Morgenstern kolportierten Debatten geht meist Morgenstern als âGe-
winnerâ hervor.
780 Ein Indiz gegen die ZuverlÀssigkeit von Morgensterns Erinnerungen ist auch seine Bemerkung
ebd., Musil habe damals â nach dem Ersten Weltkrieg â ânoch viel Haarâ gehabt. Vgl. dagegen
die Fotos von 1918 und 1921 in Corino : Musil [1988], S. 253 u. 269.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208