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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1088
Wie es beinahe jeder gescheite Mensch mitmacht, hatte Ulrich in jungen Jahren viel
Neigung fĂŒr den Sozialismus verspĂŒrt. Die GrĂŒnde sind einfach ; die Gegnerschaft
gegen das Bestehende, die jedem begabten Menschen innerlich verwandt ist, und in
der Jugend ihn fast ausschlieĂlich beherrscht, war auf dieser Seite, und auĂerdem ist
ein Staat, wo Millionen Menschen der geistigen FĂ€higkeiten beraubt werden, die in
ihnen so gut wie in anderen liegen, und in DĂŒrftigkeit oder Elend leben mĂŒssen, da-
mit [gestrichen : âreiche Leuteâ] vor ihnen mĂ€chtige Menschen entstehen, die mit ih-
rer Macht [gestrichen : âersichtlichâ] nichts [gestrichen : âGutesâ] anzufangen wissen,
nicht nur aufs roheste ungerecht, sondern auch dumm, unzweckmĂ€Ăig und selbst-
mörderisch. Wenn beim jĂŒngsten Gericht der AnklĂ€ger der Erde/unserer Welt die
Frage aufwerfen wird, ob der geistige Wert eines Fabrikanten den ermordeten Geist
von 100 Arbeitern aufwiege, so wird ein Murmeln durch die BĂ€nke gehn, auf denen
die anderen Welten sitzen. (M II/1/21)
In solchen Passagen wird Ulrich als Beobachter mit durchaus auch sozialkriti-
schem Bewusstsein gezeichnet, der seiner Gesellschaftskritik allerdings keine
politische AktivitĂ€t folgen lĂ€sst, was seinem GegenĂŒber wiederum als will-
kommener Anlass zum Hohn gereicht : âAber Sie haben sich immer damit
begnĂŒgt, das zu wissen ! Nicht wahr ? Das ist der bĂŒrgerliche Intellektuelle !â
(MoE 1455) Indem er dem intellektuellen âRelativismus mit dessen Relati-
vierung auf seine bĂŒrgerliche Herkunftâ begegnet807, spricht SchmeiĂer eine
Problematik an, deren Virulenz sich Ulrich nicht entziehen kann : Wozu
diente denn die intellektuelle Durchdringung seiner Zeit und Gesellschaft,
wenn ihre Befunde folgenlos bleiben ? Durch die erzĂ€hlerische GegenĂŒber-
stellung der beiden so kontrÀren Figuren zeigt Musil mehr performativ als
diskursiv, dass Ulrichs (andernorts von ihm selbst kritisch beleuchteter808)
âEpistemozentrismusâ809 die Selbstobjektivierung seiner eigenen Position massiv
807 So Schwanitz : BĂŒrgerlicher Relativismus, S. 466. Schwer nachvollziehbar erscheint dagegen die
Diagnose, dass SchmeiĂers Intoleranz âdem Formprinzip des Romansâ widerspreche, âdas aus
der strukturierten Begegnung und gegenseitigen Durchdringung von Perspektiven im Medium
des GesprĂ€chs und deren Relativierung auf das wirkliche Handeln bestehtâ. TatsĂ€chlich âhat
die Intoleranz, die sich auf Erkenntnis beruftâ, dort âkeinen Platzâ, wo âdie Möglichkeit sinn-
vollen Handelns durch einen Pluralismus gleichberechtigter Sinnperspektiven in Frage gestellt
wirdâ (ebd.), doch bestĂ€tigt die perspektivierende Darstellung des Einseitigen das perspektivi-
sche Formprinzip.
808 Vgl. Kap. I.3.2.
809 Bourdieu : Meditationen, S. 65 u. 68 ; vgl. auch ebd., S. 67 : âAllein schon die Tatsache, daĂ
wir in Gedanken in unserer Praxis innehalten, daĂ wir uns zu ihr zurĂŒckwenden, um sie zu
betrachten, zu beschreiben, zu analysieren, macht, daĂ wir in gewisser Weise aus ihr ausschei-
den und den agierenden Akteur tendenziell durch das reflektierende âSubjektâ ersetzen, das
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208