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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1089
behindert, weil er die sozialen Möglichkeitsbedingungen seines intellektuellen
Spielens â d. h. die FĂ€higkeit, die bestehende soziale Welt in Klammern zu
setzen â selber nicht soziologisch zu relationieren vermag. Eben eine solche
Relationierung meint das Konzept der Sozioanalyse, welche zwar nicht von
der Romanfigur geleistet werden kann, wohl aber von ihrem Autor Musil, der
in seinem eigenen Leben vor einem Àhnlichen Problem wie seine Roman-
figur steht.810 Er bzw. sein romanesker ErzÀhler kann Ulrichs charakteristi-
sche UnfÀhigkeit zur schonungslosen Selbstkritik, die eine epistemologische
Konsequenz des eigenen uneingestandenen âEpistemozentrismusâ ist, anhand
einer charakteristischen ErzĂ€hlkonstruktion â also im fiktionalen Rahmen ! â
objektivieren, wozu ihm unter anderem die argumentative Konfrontation mit
SchmeiĂer dient. Der junge Sozialist prĂ€sentiert seine kritische Diagnose aller-
dings in Statements, die in ihrer ideologischen Selbstgewissheit und geistigen
Starre weit hinter die von Ulrich gesetzten intellektuellen Standards zurĂŒckfal-
len ; er erscheint somit seinerseits kritisch perspektiviert bzw. in seinem sozia-
len Standpunkt relativiert :
Sie haben einigemal zu mir von einem Bankdirektor gesprochen, mit dem Sie be-
freundet sind : ich versichere Ihnen, dieser Bankdirektor ist mein Feind, ich bekÀmpfe
ihn, ich weise ihm nach, daĂ seine Ăberzeugungen nur VorwĂ€nde fĂŒr seinen Profit
sind, aber er hat doch wenigstens Ăberzeugungen ! Er sagt ja, wo ich nein sage ! Da-
gegen Sie ? In Ihnen hat sich alles schon aufgelöst, in Ihnen hat sich die bĂŒrgerliche
LĂŒge bereits zu zersetzen begonnen ! (MoE 1455 f.)
Hier ist kein Platz fĂŒr Differenzierungen : So prĂ€sentiert sich der von Schmei-
Ăer behauptete grobe Klassenantagonismus als intellektuelle Dampfwalze, die
alle sozialen Unterschiede etwa zwischen Besitz- und BildungsbĂŒrgertum gna-
denlos unter sich begrÀbt. Jeder Versuch, die konstitutiven BeschrÀnkungen
des eigenen Standpunktes zu transzendieren, gilt SchmeiĂer als charakter-
praktische Wissen durch das geistige, das (wie im autobiographischen Bericht) die signifikan-
ten Charakteristika, die relevanten Hinweise auswÀhlt, und tiefgreifender noch, die Erfahrung
selbst einer wesentlichen VerĂ€nderung unterziehtâ.
810 Vgl. die biografische Darstellung in Otten : EindrĂŒcke von Musil, S. 359 f.: âDie Zeit war gegen
ihn. Sein fast unmenschliches Wissen auf den Gebieten der Philosophie, Religion, Mathematik,
Physik und Psychologie hinderte ihn geradezu daran, ein Ziel zu erkennen und auf dieses zuzu-
streben, das auĂerhalb seiner Existenz als geistiger Mensch lag. BemĂŒhte er sich um das tĂ€gli-
che Brot, geriet er, weit schlimmer als ein Unbelasteter, in die Fallstricke der BanalitĂ€t.â Daraus
folgt, dass Musil seine eigene soziale Situation nicht ârealâ bewĂ€ltigen, sondern nur durch eine
fiktionale âVerfremdungâ im Medium der Kunst zu objektivieren vermochte.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208