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Teil II: Romantext als
KrÀftefeld1090
und ĂŒberzeugungslose Heuchelei : Nur wer fĂŒr den eigenen Vorteil arbeitet,
ist ihm zufolge glaubhaft, sofern er nicht von vornherein auf der ârichtigenâ
Seite steht. Der Utopist einer klassenlosen Gesellschaft vertritt somit â Ă€hnlich
wie zuletzt Leo Fischel â eine pure Anthropologie Ă la baisse und erweist sich
letztendlich als bedingungsloser AnhÀnger der herrschenden Wirklichkeit, ob-
wohl er doch so von der ânatĂŒrlichen GĂŒteâ des âunentfremdetenâ Menschen
ĂŒberzeugt zu sein vorgibt. Als er nĂ€mlich Ulrichs Maxime, der Mensch sei
âebenso gut wie bösâ, vernimmt, lĂ€sst ihn Musil in einer Entwurfsnotiz aus
dem Jahr 1932 hinsichtlich seiner anthropologischen PrÀmissen ausrufen :
âNein, der Mensch ist gut und wird nur durch den Kapitalismus verdorben.â
(M II/1/22) Ulrich teilt diese Ansicht zwar nicht, die sich als marxistische
Variante des ontologischen Optimismus zu erkennen gibt, bestÀtigt aber
SchmeiĂers Credo, âder Mensch mĂŒsse von auĂen geĂ€ndert werdenâ. Um die-
sen zwiespĂ€ltigen Satz nicht völlig ambivalenzfrei stehen zu lassen, fĂŒgt er
freilich hinzu : âGeben Sie mir Gewalt und ich mache Menschenfresserâ (M
II/1/22).811 Diese Formel fĂŒr Musils Theorem âmenschlicher Gestaltlosigkeitâ
macht die Gefahr offensichtlich, die in jedem der in den zwanziger Jahren
so beliebten Programme einer âMenschenformungâ verborgen liegt. Sie wird
im kanonischen Romantext in abgewandelter Form sowohl Ulrich als auch
dem General Stumm von Bordwehr in den Mund gelegt (MoE 414 u. 1020).
SchmeiĂer hingegen kann ihr â kaum ĂŒberraschend â wenig abgewinnen.
Die geistige Grundlage kritischer Gesellschaftsanalyse verwandelt sich un-
ter SchmeiĂers Hand in ein enges Korsett fĂŒr jede Art von unabhĂ€ngiger Re-
flexion, das dieser von Beginn an ihr Ergebnis vorschreiben möchte. Musil
verarbeitet hier offenbar eine Erfahrung, die er der rĂŒckblickenden Darstel-
lung Karl Ottens zufolge bei einem gemeinsamen Spaziergang durch Berlin in
folgende Worte gefasst hat :
In der NĂ€he des Nollendorfplatzes, Anfang der dreiĂiger Jahre in Berlin, ein Tag der
Revolte, der Verzweiflung, der Arbeitslosigkeit, des TrĂŒbsinns, der mit grauen Wol-
811 Vgl. auch die Ă€ltere Fassung der entsprechenden Passage aus den EntwĂŒrfen zum Zwillings-
schwester-Roman (1923/24), die das Gestaltlosigkeitstheorem als Antwort auf die optimistische
Phrase von der ânatĂŒrlichen GĂŒteâ des Menschen noch deutlicher zum Vorschein bringt : WĂ€h-
rend SchmeiĂer dort behauptet, âder Mensch ist gut und wird durch den Kapitalismus unna-
tĂŒrlich !â, antwortet Anders scheinbar ganz in dessen Sinn : âDas sage ich ja auch. Er ist nicht
von innen, sondern nur von auĂen durch eine Ănderung seiner Lebensbedingungen zu Ă€ndern.
Geben Sie mir durch fĂŒnf Jahre unumschrĂ€nkte Regierungsgewalt ĂŒber die weiĂe Welt, und
ich verpflichte mich, daĂ vor Ablauf des fĂŒnften Jahrs Menschenfresserei zu etwas gemacht
[werden] wird, woran niemand AnstoĂ nimmt.â (MoE 1628 f.; M II/1/131)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208