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âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ 1091
ken und Schneeregen tief auf die desolate Einöde herabdrĂŒckte. Wir gingen auf den
Wittenbergplatz zu, wo Rowohlt hauste. [Musil sagte :] âIch verstehe die Ziele des
Sozialismus, ich billige sie, ich gehöre dazu ; aber ich billige nicht die Haltung der So-
zialistischen Partei, der BĂŒrokratie, der ungeistigen Gewissenlosigkeit. Wie kommt es,
wie ist es möglich, daĂ wir auĂerhalb dieser Bewegung stehen, keinen Anteil an ihr
haben können, auĂer daĂ wir kritisch diese Partei ablehnen mĂŒssen.â812
Die demnach von Musil geĂ€uĂerte prinzipielle Billigung sozialistischer Ziele
geht genauso wie sein intellektuelles UngenĂŒgen an der praktischen sozialde-
mokratischen Parteipolitik â und mehr noch an der kommunistischen813 â auch
aus der apokryphen SchmeiĂer-Episode des Mann ohne Eigenschaften hervor.
Ulrichs argumentativer Gegenschlag auf SchmeiĂers Insinuationen erfolgt
in Form einer einfachen Konzession : âEs mag sein, daĂ meine Art zu denken
bĂŒrgerlicher Herkunft ist ; fĂŒr einen Teil ist das sogar wahrscheinlich. Aber :
Inter faeces et urinam nascimur â warum nicht auch unsere Meinungen ?
Was beweist das gegen ihre Richtigkeit ? !â (MoE 1456) Diesem (im Bearbei-
tungsprozess geschÀrften814) Argument aus dem Geist des Essayismus, das
812 Otten : EindrĂŒcke von Musil, S. 359. Otten selbst interpretiert Musils verzweifelte ĂuĂerung
als individualanarchischen Elitismus : âEs war dies der Ausdruck der bitteren Erkenntnis, daĂ
der geistige Mensch ausgeschaltet war vom politischen Leben der Nation, daĂ seine Stimme
nur genau so viel zÀhlte wie die des Trambahnschaffners, daà dessen Macht im Staate aber
dank seiner gewerkschaftlichen Organisation gröĂer war als die des Individuums, mochte es
ein noch so ĂŒberlegener Geist sein. / Musil war, um es prĂ€ziser auszudrĂŒcken, ein entwurzelter
BĂŒrger, der sich dieser Tatsache des Entwurzeltseins, des mit Wurzeln und Krone im Sturm
Herumgewirbelten, bewuĂt war, aber aus seiner Hilflosigkeit dem Materiellen, dem Gelde
gegenĂŒber, keinen Ausweg wuĂte.â Vgl. Corino : Musil [1988], S. 381.
813 Vgl. etwa folgende bildungsfeindlichen Exzerpte im Arbeitsheft 8 (1920), deren Herkunft unge-
klĂ€rt ist (vgl. Tb 2, 234) und die Musil spĂ€ter fĂŒr die Gestaltung der Debatte zwischen Schmei-
Ăer und Meingast (bzw. damals noch âLindnerâ) in einem der Kapitelgruppen-EntwĂŒrfe ver-
wenden sollte (MoE 1519) : âKommunistische Parteiâ : âDie âsogenannte Hochschuleâ. âWenn sie
(die Studenten) anstatt wie sonst MaikĂ€fer zu sezieren, in AltertĂŒmern zu stĂŒren [sic], Abhand-
lungen ĂŒber die Gedichte irgend eines Dichterlings zu schmieren, anstatt römisches Unrecht
zu pauken, Theologie und Philosophisterei zu treiben âŠâ Die UniversitĂ€t âhat seit Jahrhunder-
ten das Recht verloren, ernst genommen zu werden als geistiges Zentrumâ â⊠die wirklichen
geistigen Arbeiter bildet lĂ€ngst die zielbewuĂte Arbeiterbewegung aus, die zielbewuĂten Klas-
senkÀmpfer, die die Barbarei der Ausbeutung beseitigen werden, um erst die Grundlage einer
zukĂŒnftigen Kultur neu zu schaffenâ.â (Tb 1, 372)
814 Noch in einer Entwurfsnotiz von 1932 hatte Musil Ulrich soziologisch undifferenzierter im
Sinne einer vollkommenen sozialen Ortlosigkeit des Intellektuellen sagen lassen : âIch bin we-
der bĂŒrgerlich, noch unbĂŒrgerlich. Ich habe keine Partei (vielleicht : auĂer der des Genies ?). Es
ist wahr, daĂ ich so denke, weil es mir gut geht ; trotzdem ist auch wahr, was ich denke.â (M
II/1/22)
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208