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Teil II: Romantext als
Kräftefeld1092
sich auf die Differenz „zwischen Entstehungs- und Geltungsbedingungen
von Auffassungen und Theorien“815 stützt – „für jemanden, der nicht mehr
in einer optimistisch-selbstbewußten Bürgerlichkeit Halt findet, sich aber
auch keiner neuen Weltanschauung verschreiben kann, vielleicht die kogni-
tiv einzig akzeptable Möglichkeit, der Entwertung des eigenen Denkens zu
entgehen“816 –, kann Schmeißer wenig mehr als bloße Aggression entgegen-
setzen : „[W]enn Ulrich so sprach, höflichen Geistes, konnte Schmeißer nie an
sich halten und zerbarst jedesmal von neuem : ‚Alles, was Sie sagen, entspringt
der sittlichen Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft !‘ verkündete er dann,
oder etwas Ähnliches“ (MoE 1456). Genauso wie Schmeißer, dem als stolzem
Proletarier die bürgerliche Höflichkeit zuwider ist, bleibt allerdings auch Ul-
rich seinem einmal erworbenen Habitus treu :
Er fühlte keine Teilnahme an der Politik. Seit dem Freiheitsjahr Achtundvierzig und
der Gründung des Deutschen Reichs, Ereignissen, deren sich nur noch eine Minder-
heit persönlich erinnerte, erschien wohl der Mehrzahl der Gebildeten Politik eher
als ein Atavismus denn als eine Hauptsache. Fast an nichts war zu erkennen, daß sich
hinter diesen gewohnheitsmäßig weitergehenden äußeren Vorgängen die geistigen
[sic] schon auf jene Entstaltung [!] vorbereiteten, auf jene Untergangsbereitschaft
und aus Überdruß an sich selbst entstehende Selbstmordwilligkeit, die einen Zustand
weich machen und wahrscheinlich immer die passive Vorbedingung der Zeitab-
schnitte gewaltsamer politischer Veränderungen bilden. So war auch Ulrich durch
sein ganzes Leben daran gewöhnt worden, von der Politik nicht zu erwarten, daß sie
das vollbringe, was geschehen müßte, sondern bestenfalls das, was längst schon hätte
geschehen sein sollen. Das Bild, unter dem sie sich ihm darbot, war meistens das
einer verbrecherischen Nachlässigkeit. Auch die Soziale Frage, die das eins und alles
[sic] Schmeißers bildete, erschien ihm nicht als Frage, sondern bloß als eine unter-
lassene Antwort, aber er konnte ein Hundert anderer solcher ‚Fragen‘ anführen, über
die im Geist die Akten abgeschlossen waren und die, wie sich sagen ließe, vergeblich
auf die manipulative Behandlung im Büro der Expedition warteten. (MoE 1456)
Wie immer man die hier geschilderte, nicht nur im politisch explosiven Kon-
text der Zwischenkriegszeit gefährliche Politikverdrossenheit im Einzelnen
bewerten mag – eines wird daraus deutlich : Dem vergleichsweise unreflektier-
ten Aktivismus Schmeißers, der auf einer ideologischen Erstarrung beruht817,
815 Kuzmics/Mozetič : Musils Beitrag zur Soziologie, S. 236.
816 Ebd.
817 In der erwähnten Entwurfsnotiz von 1932 erhebt Ulrich folgenden intellektualistischen Ein-
zurück zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRÄFTEFELD
- 1. „Versuchsstation des Weltuntergangs“ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. „Zeitfiguren“ 1913/1930 „am gesellschaftlichen Schachbrett“ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) – Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als ‚Antiessayismus‘ : Der Funktionär Tuzzi (489) – Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und ‚Jude‘ 501
- Ein trojanisches Pferd des Militärs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte ‚Eigenschaftlichkeit‘ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist Schmeißer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem „Geiste des Expressionismus“ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte ‚Eigenschaftlichkeit‘, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. „Die falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaft“ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der Geschlechteridentitäten : Die „Träger des Zeit- wandels“ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen „Zwangsherrschaft“ zur wissenschaftlichen Eheführung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche Verhältnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der ‚schönen Seele‘ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als „Lustselbstmord“ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frühes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe à la hausse, platonische „Begegnung zweier Berggipfel“ : Diotima und Arnheim 908
- Die „letzte Liebesgeschichte“ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne Männerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, Preußen gegen Österreich 1005
- Der Intellektuelle und der Großschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte „Exponenten des Zeitgeistes“ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- Bildungsbürger contra Kleinbürger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- Bildungsbürger contra Proletarier : Ulrich und Schmeißer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- Sekundärliteratur zu Musil 1193
- Register 1208