Seite - 1103 - in Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
Bild der Seite - 1103 -
Text der Seite - 1103 -
Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1103
expressionistischem Pazifismus auf humanitÀr-idealistischer bzw. sozialisti-
scher Grundlage15 oder zu Ernst JĂŒngers, Bertolt Brechts und Arnolt Bronnens
neusachlichem Antihumanismus mit ebenfalls variierender ideologischer Be-
grĂŒndung.16
Musil rekurriert dabei auf einen traditionellen anthropologischen Gegen-
satz, den er 1939 im Arbeitsheft 30 unter dem Stichwort âHausse-Baisseâ in
folgende idealtypische Formel bringt : âDer Mensch ist gut : Rousseau. Er ist
von Natur eine Bestie : Voltaire.â (Tb 1, 772) Diese Dichotomie, deren Ide-
altypik an das Gegensatzpaar der Romanfiguren Settembrini und Naphta in
Thomas Manns Zauberberg erinnert, hat auch im Mann ohne Eigenschaften â
wenngleich nicht ganz so plakativ â eine materialgliedernde, ja ideografisch
strukturbildende Funktion : So kann die normative Aussage, der Mensch sei
âvon Natur aus gutâ, bei so verschiedenen Romanfiguren wie dem Konserva-
tiven Leinsdorf (vgl. MoE 1004 f.), dem Pazifisten Feuermaul (vgl. MoE 932,
976, 1004 u. 1867), dem christlichen Pflichtethiker Lindner (vgl. M II/8/214)
oder dem Sozialisten SchmeiĂer (vgl. M II/1/22 u. M II/1/131) ausgemacht
werden ; die gegenteilige Behauptung, er sei vielmehr âeine Bestieâ, die man
durch Gewalt, autoritĂ€re Formung oder List lenken mĂŒsse, erinnert hinge-
gen an Aussagen des fanatischen Rousseau-VerÀchters Meingast (vgl. MoE
834 u. 921), des nur scheinbaren âHaussiersâ Arnheim (vgl. MoE 413 u. 508)
oder des unter dem Einfluss eines grassierenden Antisemitismus zum Zyniker
gewordenen Leo Fischel (vgl. MoE 1624, nach M II/1/126), lÀsst man die se-
lektiven UnterdrĂŒckungsphantasien des mystizistischen und zunehmend auch
rassistischen Antisemiten Hans Sepp (vgl. MoE 1011 u. 1017 f.) einmal auĂer
Acht. Die romaninterne Oppositionsbildung entspricht darĂŒber hinaus einem
konstitutiven Antagonismus des literarischen Feldes der Zwischenkriegszeit
zwischen (radikal)pazifistischen und gewaltverherrlichenden Schriftstellern,
der sich an der in mancher Hinsicht kontrÀren Programmatik so unterschied-
licher Autoren wie Franz Werfel und Ernst JĂŒnger veranschaulichen lĂ€sst.
Dass Musil sich seit der unmittelbaren Nachkriegszeit intensiv mit dem
expressionistischen Menschheitspathos und Pazifismus auseinandersetzte,
zeigt etwa ein Eintrag ins Arbeitsheft 19 vom Dezember 1919, worin er sich
â offenbar zum Zweck der Materialsammlung â einschlĂ€gige Stichwörter und
Hinweise notierte : âDas neue Pathos. Der Mensch ist gut ⊠Oh Mensch âŠ
15 Vgl. Bausinger : Musil und die Ablehnung des Expressionismus, S. 385 f.; Strutz : Politik und
Literatur, S. 14â16 u. 90â96.
16 Vgl. dazu Lethen : Zwei Barbaren ; ders.: Lob der KĂ€lte, bes. S. 288â293 u. 305â319 ; ders.: Ver-
haltenslehren der KĂ€lte, bes. S. 170â181, 187â215 u. 262â267.
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208