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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
Autors1104
JĂŒngling Hasenclever ⊠Das neue Geschlecht ist eine Form des Pessimismus.
Nichtbesitzens, sonst wĂŒrde man nicht so beschwören.â (Tb 1, 546) Ange-
spielt wird hier zunÀchst auf die expressionistische Zeitschrift Das neue Pathos
(1913â1919), die seit 1914 als Jahrbuch erschien (vgl. auch Werfels Gedicht
An mein Pathos17 in seiner ersten Gedichtsammlung Der Weltfreund [1911]),
sodann auf Leonhard Franks Novellensammlung mit dem sprechenden Ti-
tel Der Mensch ist gut (zuerst 1917)18, darĂŒber hinaus auf die sogenannte âOh
Menschâ-Lyrik insgesamt, die als âInbegriff fĂŒr die utopisch, auf WeltverĂ€nde-
rung und -verbesserung gestimmte Lyrik der frĂŒhen Expressionistenâ19 galt,
sowie zuletzt auf Walter Hasenclevers ebenfalls einschlÀgige Gedichtsamm-
lung Der JĂŒngling (1913).20 In einer abschlieĂenden ErlĂ€uterung spielt Musil
wiederum auf die (oben diskutierte21) affektive Kehrseite des radikalen Pazi-
fismus an, der ihm als invertierte BrutalitĂ€t erscheint : âHeiĂt eigentlich : Hol
dich der Teufel ! aber das halte ich nicht aus.â (Tb 1, 546) Neben diesem er-
neuten Verweis auf die psychologische und soziologische NĂ€he zwischen radi-
kalen Formen prÀtendierter Gewaltlosigkeit und drohendem Gewaltausbruch
notiert Musil noch eine weitere sarkastische Bemerkung : âDas A und O der
Innerlichkeit dieser Zeit ist entschieden das Oâ (Tb 1, 546). Im Zusammen-
hang der Diskussion um die romaneske Feuermaul-Figur22 wurde bereits die
regressive Tendenz herausgestrichen, die Musil dem emphatischen Mensch-
heitspathos zuschreibt (vgl. Tb 1, 412). DarĂŒber hinaus sieht er die emphati-
schen âPazifistenâ bloĂ als zufĂ€llig BegĂŒnstigte der Stunde ; im Dezember 1919
notiert er dazu folgende skeptische Betrachtung : âSie sind moralische Kriegs-
gewinner. Einem Zufallsvorteil verdanken sie das Ăbergewicht ihrer Anschau-
ung.â Wie ebenfalls schon angefĂŒhrt, ergĂ€nzt er diese kritischen Gedanken
ĂŒber einen weltfremden Pazifismus durch das unzweideutige Bekenntnis, er
selber sei zwar auch ein âPazifist, aber nicht aus Ideologie, denn das ist eine
BeschrĂ€nktheitâ (Tb 1, 453).
Eine besonders enervierende Ausformung des expressionistischen Mensch-
heitspathos stellte fĂŒr Musil in den spĂ€ten zwanziger und frĂŒhen dreiĂiger
Jahren der auĂerordentlich erfolgreiche zeitgenössische Dichter Franz Werfel
dar, der seit 1917/18 in Wien â und damit in seiner unmittelbaren Umgebung
â lebte und wirkte und den er wahrscheinlich Anfang des letzten Kriegsjahrs
17 Werfel : Das lyrische Werk, S. 56.
18 Vgl. Frank : Der Mensch ist gut, bes. S. 135.
19 So Frisés Kommentar (Tb 2, 361, Anm. 94).
20 Mehr dazu in den Kommentaren FrisĂ©s (Tb 2, 262 f., Anm. 324, u. Tb 2, 361, Anm. 93â96).
21 Vgl. die Abschnitte zu Feuermaul (und Hans Sepp) in Kap. II.2.1 u. II.3.2.
22 Vgl. den entsprechenden Abschnitt in Kap. II.2.1.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208