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Teil III: Erzeugungsformel des Werks und Selbstobjektivierung des
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die Menschheitsgeschichte als zielgerichteter Prozess, der nicht vom Menschen
selbst vorangetrieben wird, sondern sich als Entfaltung eines der Natur innewoh-
nenden Plans vollzieht.37
Wie bereits hier deutlich geworden sein dĂŒrfte, widerspricht die dergestalt
skizzierte Anthropologie JĂŒngers den Musilâschen Vorstellungen diametral :
Weder das dualistische Denken noch die Hypostasierung einer teleologisch
aufgeladenen elementaren Natur sind mit dem Theorem der âmenschlichen
Gestaltlosigkeitâ in Einklang zu bringen. Dementsprechend hat sich Musil in
einer Nebenbemerkung zu seinem 1939 angefertigten Exzerpt aus Hermann
Rauschnings Faschismusdeutung Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und
Wirklichkeit im Dritten Reich (1938)38, das er unter das Stichwort âZur ErgĂ€n-
zung der Neigung zum anderen Zustand, Kontemplation und dergleichen
durch das Lebendig-Böseâ stellte, spöttisch ĂŒber JĂŒnger und dessen Essenzi-
alisierungen bzw. Naturalisierungen geĂ€uĂert : âDer Krieg als ein Urelement
â nach Ernst JĂŒnger, dem tapferen Offizier, â ist es nicht, was Band I.[39] [des
Mann ohne Eigenschaften, N.C.W.] sagt : daĂ sich konsequente Schuhmacher
den Himmel als ein Schusterparadies vorstellen mĂŒssen ? !â (M V/2/12) Mu-
sil zufolge verallgemeinert JĂŒnger in seiner âPhilosophie des Teufelsâ bzw.
âder Demagogieâ (M V/2/12) die eigene soziale Position und damit auch die
eigene partikulare illusio auf problematische Weise zu einem generellen Er-
klÀrungsprinzip menschlicher Gesellschaft und Geschichte.40 Er Àhnelt mit
37 Streim : Das Ende des Anthropozentrismus, S. 120 f.
38 Zu Musils ambivalenter EinschÀtzung dieses Buchs vgl. den Eintrag in das Arbeitsheft 35,
7.7.1940 : âZum erstenmal habe ich anders ĂŒber Hitler zu denken begonnen, als ich Rausch -
ni[n]gs Kritik in der Revolution des Nihilismus las. So instruktiv dieses Buch ist, löste es Wider-
stand in mir aus und ich bemerkte, daà ich seinem Gegner zustimmen könnte. Das ist lÀnger
als ein Jahr her und geschah noch in ZĂŒrich. Es wurde verstĂ€rkt durch Hitler mâa dit, das ich
teilweise las.â (Tb 1, 1013)
39 Die Stelle, auf die Musil hier in einer offenbar ungenauen Erinnerung anspielt, findet sich nicht
im Ersten Buch des Mann ohne Eigenschaften, sondern erst in den nachgelassenen Notizen zum
geplanten Kapitel âFrĂŒhspaziergangâ (1934/35). Dort bemerkt der ErzĂ€hler, dass âein guter
Schuster keineswegs glauben kann, daĂ die Engel barfuĂ gehenâ : âSie tragen Sandalen !â, meint
auch der General Stumm von Bordwehr, der seinerseits als Vertreter des kakanischen Mili-
tĂ€rs nach diesem diskursiven Muster und ganz Ă€hnlich wie JĂŒnger den âKriegâ zum âVater aller
Dingeâ verklĂ€ren sollte â mit anderen Worten : zu einem âElement der von Gott eingesetz-
ten Weltordnungâ (M II/1/165). Zum Konnex âSchuster und Schusterhimmelâ vgl. auch M
III/5/56 ; ferner H 29/6â7.
40 Ăhnlich Elias : Studien ĂŒber die Deutschen, S. 278 f.: âIn Stahlgewittern ist im Grunde eine Ver-
herrlichung des jungen, bĂŒrgerlichen deutschen Offiziers, eines Angehörigen der Generation,
die in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts geboren wurde. Die höheren, zumeist adligen,
zurĂŒck zum
Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208