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Der Mann ohne Eigenschaften im zeitgenössischen literarischen Feld 1109
dieser egozentrischen Sicht der Dinge dem Fleischhauer Oskar in HorvĂĄths
VolksstĂŒck Geschichten aus dem Wiener Wald (1931), der sich Gott nur als den
âoberste[n] Fleischhauerâ vorstellen kann.41
Dass das Werk und die Person JĂŒngers Musil zumindest zeitweilig inten-
siv beschÀftigten, belegt die Fortsetzung seines Rauschning-Exzerpts, worin
JĂŒngers groĂ angelegte Modernedeutung Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt
zusammengefasst wird.42 Zu Beginn seines mittelbaren Auszugs aus dieser
Schrift, die 1932 erschienen ist und den antivitalistischen Wandel des ehema-
ligen Freikorpsmitglieds einleitete43, notiert Musil folgende ideologisch zent-
rale SchlĂŒsselbegriffe :
Ernst JĂŒnger : Der Arbeiter, Herrschaft und Gestalt. (vor 1933) : Weder Individuum
noch Masse, sondern Typus. Arbeitsdemokratie. Sozialismus als Voraussetzung einer
schĂ€rfsten autoritĂ€ren Gliederung und Nationalismus als Voraussetzung fĂŒr imperi-
ale Aufgaben. Verwirklichung der totalen Mobilmachung. Die Masse kann sich nicht
einmal verteidigen. Wirklicher Sozialismus ist technisch planende Weltgestaltung.
Ăkonomische Gesichtspunkte sind gegenstandslos. âWeimarâ war der BĂŒrger in seiner
letzten unverhĂŒlltesten Gestalt. In diesem Raum ist es erstrebenswerter, Verbrecher
als BĂŒrger zu sein. (M V/2/12)
JĂŒnger bedient sich diesem Exzerpt zufolge eines kruden Gestaltbegriffs im
Sinne einer essenzialistischen Typologie44 und schlieĂt damit an konservativ-
revolutionÀre (wie Oswald Spengler) bis faschistoide (wie Alfred Rosenberg)
PopulĂ€rphilosophen an45, denen â genauso wie der Leipziger Schule der Ge-
Offiziere erscheinen als Vorgesetzte nur in der Ferne. Im Brennpunkt steht der Leutnant und
KompaniefĂŒhrer bĂŒrgerlicher Herkunft, der völlig an den Adelskanon des deutschen Offziers
assimiliert ist, der sich selbst mit Stolz als Mitglied der deutschen Offizierskaste mit ihrem sehr
prononcierten und distinguierten Verhaltensritual empfiehlt.â Die Vertreter dieser Kaste âsahen
den Krieg nicht einfach im Sinne des Kriegeradels als eine soziale Gegebenheit, als das Los der
Völker und besonders der Soldaten, sondern betrachteten ihn als etwas Sein-Sollendes und
WĂŒnschenswertes, als Ideal der mĂ€nnlichen Haltung, so daĂ seine Gewalttat und BrutalitĂ€t als
etwas GroĂes und Sinnvolles erscheintâ.
41 So Hanisch : Der lange Schatten des Staates, S. 334, ĂŒber HorvĂĄth : Geschichten aus dem Wiener
Wald, S. 57.
42 Vgl. Rauschning : Die Revolution des Nihilismus, S. 104 f.
43 So Streim : Das Ende des Anthropozentrismus, S. 121 f.
44 Vgl. ebd., wonach JĂŒnger sich in Der Arbeiter âeiner gestalttypologischen Betrachtungsweiseâ
bedient, âdie unter der bewegten OberflĂ€che ein ruhendes Sein zu erkennen versucht. Aller-
dings wird die Entstehung des Arbeiters [âŠ] immer noch teleologisch und willensmetaphysisch
konzipiertâ.
45 Vgl. Vatan : Musil et la question anthropologique, S. 212â214.
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Buch Kakanien als Gesellschaftskonstruktion - Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts"
Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Titel
- Kakanien als Gesellschaftskonstruktion
- Untertitel
- Robert Musils Sozioanalyse des 20. Jahrhunderts
- Autor
- Norbert Christian Wolf
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2011
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- ISBN
- 978-3-205-78740-2
- Abmessungen
- 15.5 x 23.0 cm
- Seiten
- 1224
- Schlagwörter
- Robert Musil, The Man without Qualities, modern novel, sociology of the novel, Pierre Bourdieu, cultural history
- Kategorie
- Geisteswissenschaften
Inhaltsverzeichnis
- Vorbemerkung 9
- Einleitung 11
- TEIL I : GRUNDLEGUNG
- TEIL II : ROMANTEXT ALS KRĂFTEFELD
- 1. âVersuchsstation des Weltuntergangsâ : Chronotopos und sozialer Raum 261
- 2. âZeitfigurenâ 1913/1930 âam gesellschaftlichen Schachbrettâ : Kapitalausstattung und Habitusbildung 328
- Erben und Enterbte 344
- Ulrich, Mann ohne Eigenschaften ) â Der Dilettant Walter 347
- Mann mit Eigenschaften 378
- Eigenschaftslosigkeit aus Marginalisierung : Ulrichs Alter Ego Moosbrugger 392
- Der moderne Industrielle : Ulrichs Gegenspieler Arnheim 409
- Adel und modernerKonservativismus : Ulrichs Inversion Leinsdorf 457
- Aufsteiger und Gebremste 482
- Realpolitik als âAntiessayismusâ : Der FunktionĂ€r Tuzzi (489) â Zur sozialen Erzeugung von Eigenschaften : Leo Fischel, Liberaler und âJudeâ 501
- Ein trojanisches Pferd des MilitÀrs : General Stumm von Bordwehr 523
- Terroristen und Propheten 548
- Forcierte âEigenschaftlichkeitâ : Der Antisemit Hans Sepp 558
- eingast, Faschist und Schwerenöter 584
- Der selbstbewusste Proletarier und junge Sozialist SchmeiĂer 601
- Friedel Feuermaul, Pazifist aus dem âGeiste des Expressionismusâ 613
- Gefallene Geliebte 643
- Zerrissener Zusammenhang, perspektivische Verschiebung : Ulrichs Geliebte Leona 649
- Petrifizierte âEigenschaftlichkeitâ, Macht des Faktischen : Ulrichs Geliebte Bonadea 659
- Leidende an einer geheimnisvollen Zeitkrankheit 672
- Wahnsinn als Methode : Clarisse 676
- Die frustrierte Ehefrau Klementine Fischel 694
- Ein gespaltener Habitus : Gerda Fischel 698
- Angepasste und Dissidentinnen 708
- Diotima, Frau mit Eigenschaften 712
- Agathe, Frau ohne Eigenschaften 737
- 3. âDie falschen zwischenmenschlichen Vereinigungen unserer Gesellschaftâ : Konstellationen und Interaktionen 768
- Ehen in der Krise 781
- Erosion der GeschlechteridentitĂ€ten : Die âTrĂ€ger des Zeit- wandelsâ Walter und Clarisse 788
- Von der physiologischen âZwangsherrschaftâ zur wissenschaftlichen EhefĂŒhrung : Diotima und Tuzzi 799
- Das schleichende Eindringen des Politischen ins Private : Leo und Klementine Fischel 809
- Unordentliche VerhÀltnisse, Geschlechterkampf 817
- Der Intellektuelle und die Kontrafaktur der âschönen Seeleâ : Ulrich und Bonadea 825
- Coitus interruptus als âLustselbstmordâ : Ulrich und Gerda 844
- Liebesversuche jenseits der Ehe 885
- Ulrichs frĂŒhes Einheitserlebnis 894
- Die verbindende Kraft des Antisemitismus : Gerda Fischel und Hans Sepp 902
- Liebe Ă la hausse, platonische âBegegnung zweier Berggipfelâ : Diotima und Arnheim 908
- Die âletzte Liebesgeschichteâ als Experiment der Androgynie : Ulrich und Agathe 928
- 3.2 Gleichgeschlechtliche Konstellationen : Moderne MĂ€nnerbeziehungen 998
- Konkurrenz um Prinzipien und Menschen 1000
- Reviermarkierungen im Kampf um eine Frau : Tuzzi gegen Arnheim, PreuĂen gegen Ăsterreich 1005
- Der Intellektuelle und der GroĂschriftsteller als Versucher : Ulrich gegen Arnheim 1014
- Ideologische Gegnerschaften, Klassenkampf 1059
- Entgegengesetzte âExponenten des Zeitgeistesâ : Hans Sepp und Feuer maul 1063
- BildungsbĂŒrger contra KleinbĂŒrger : Ulrich und Hans Sepp 1078
- BildungsbĂŒrger contra Proletarier : Ulrich und SchmeiĂer 1086
- TEIL III : ERZEUGUNGSFORMEL DES WERKS UND SELBSTOBJEKTIVIERUNG DES AUTORS
- Literaturverzeichnis 1169
- Musil-Texte 1169
- Andere Quellen 1169
- Nachschlagewerke 1176
- Allgemeine Forschungsliteratur 1176
- SekundÀrliteratur zu Musil 1193
- Register 1208